Französische Chansons mit Gehechel und Geklopfe, Elektrobretter für schlaflose Nächte, elegischer Shoegaze und ekstatische Ah-Ah-Ah-Chöre – was kann da noch schiefgehen? Von SONJA EISMANN
Eigentlich ist es für Musik, ähnlich wie für Essen, ein vernichtendes Urteil, wenn man ihr zuspricht, sie sei „interessant“. Meint normalerweise: ambitioniert, aber kaum genießbar. Eitel, ohne geschmackvoll zu sein. Doch diese Zuschreibung verwandelt sich, sobald sie auf die Musik der Pariserin Léonore Boulanger angewandt wird: Denn wie könnten Kompositionen, in denen sich scheinbar gefällige Elemente folkiger französischer Chansons beständig zwischen Afro-Folk-Riffs, wie aus dem Nichts kommenden Xylophonen, raschelnden „Stör“geräuschen und einer wie ein Instrument eingesetzten Stimme auflösen, nicht interessant sein? Auf ihrer bereits vierten Platte, Square Ouh La La (Clouds Hill/Rough Trade) gelingt der ehemaligen Schauspielstudentin der Balanceakt zwischen dem gefälligen Schmelz des französischen Easy Listening, inklusive klimpernden Gitarren und gehauchten weiblichen Gesangslinien, und experimentellen, ganz kurzen, gesprechsungenen Gedichten, unüblichen Instrumenten wie Kalimba, Ngoni oder Santur und immer wieder Umwegen, Leerräumen, Stops. Auf einmal kommt irgendwo immer ein Geklopfe her, ein Seufzen, ein Jammern, ein Hecheln, die Stimme verwandelt sich in Geschnatter oder gar mehrlagiges Skandieren. „Interessant“ ist für dieses klanglich so disparate und doch geschlossene Album vielleicht wirklich das falsche Wort – faszinierend trifft es da schon eher.
Ebenfalls aus Frankreich kommt die Produzentin und DJ Jennifer Cardini, sie bewegt sich musikalisch aber auf einem ganz anderen Planeten – und damit ist nicht ihr neuer Wohnort Köln gemeint. Cardini, eine Fixgröße des legendären, leider verblichenen Pariser Lesbenclubs Le Pulp, war eine der ersten Minimal-Techno-DJs Frankreichs und hat mit ihrer Residency im Pariser Rex maßgeblich dazu beigetragen, diesen Sound in Frankreich zu etablieren und weiterzuentwickeln. Der Titel ihres Abends dort wurde in von Insomnia geplagten Nächten zum Namen ihres neugegründeten Labels, auf dem nun mit Correspondant Compilation 01 die erste Compilation der Chefin er- scheint (Correspondant/Trost). Die Schlaflosigkeit ist dieser im minimalen Design daherkommenden CD durch die tiefen Drehzahlen und die träumerisch verwischte, dunkle Atmosphäre durchaus anzuhören. Doch trotz der meist geringen BPM-Zahlen manifestiert sich die Auswahl Cardinis als, mit Verlaub gesagt, geiles Elektrobrett, das gerade durch die Langsamkeit noch tiefer in die Magengrube fährt. Auch wenn leider die weibliche Beteiligung bei den 15 Tracks gering ausfällt – nur Cora Novoa, Rework und Cardini herself sind vertreten –, ist diese Compilation der perfekte Start in die Abgründe einer langen (Party-)Nacht.
Nicht wenig abgründig und dunkel geht es auch auf der EP Avalanche (In My Room/Good To Go) der gebürtigen Grazerin und seit Jahren in New York beheimateten Thereministin Dorit Chrysler zu. Dabei spielt das Theremin hier gar nicht unbedingt die Hauptrolle. Vielmehr ist es Chryslers erstaunliche Stimme, die in den fünf hypnotisch langsamen Stücken zwischen Nico und Marianne Faithfull changiert, die die auf dem Label des dänischen Elektronikers Trentemøller erschienene Platte zum Ereignis macht. Doch es gibt nicht nur eindrucksvoll dräuende Sound-scapes und gepflegte Melancholie – in „Winter Glow“ schwingt sich Chryslers Stimme in ätherische Shoegaze-Höhen auf, die herzwärmende Erinnerungen an My Bloody Valentine und Galaxie 500 lebendig werden lassen.
Komplett uplifting geht es auf dem Album Kill The Should And Make A Do (ADP/Al!ve) einer kanadisch-deutschen Band mit dem schönen Namen Wrongkong zu – schon der Opener „Escape“ verbreitet mit wildem Synthiegeklimper, eingängigen Melodien, ekstatischen Ah-Ah-Ah-Chorälen im Hintergrund und vor allem dem Organ von Sängerin Cyrena Dunbar eine Stimmung dicht gepackter Energie, die sich durch das ganze Album zieht. Denn so geht es fröhlich weiter: Das nachfolgende „See It Coming“ ist mit hämmerndem Houseklavier, Filterhouse-Anleihen, ravigem Gebratze und wieder Dunbars ansteckend euphorischer Stimme ein eindeutiger Gute-Laune-Hit, wie auch alles, was danach kommt und in seiner gefälligen, mitunter sogar rockigen Tanzbarkeit durchaus auch mal an die Scissor Sisters erinnert. Ob es daran liegt, dass die seit zehn Jahren in Deutschland lebende Sängerin – übrigens auch aus-gebildete Tänzerin – als Kind bei den Olympischen Winterspielen in Calgary gemeinsam mit Feist auf der Bühne stand? Wer weiß das schon im Pop.
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