Wortführerin der chilenischen Massenproteste gegen die neoliberale Bildungspolitik ist eine Frau. Doch der Erfolg der Mobilisierung wird immer häufiger mit ihrem guten Aussehen statt mit der Überzeugungskraft der Forderungen begründet. Von PAULA RIVEROS AHUMADA
Gegenwärtig entwickelt sich in Chile eine der größten sozialen Bewegungen seit der Rückkehr zur Demokratie. Die chilenische Studierendenbewegung formierte sich im Mai dieses Jahres gegen die strukturellen Missstände im gegenwärtigen Bildungssystem, das noch ein Erbe von Augusto Pinochet ist. Dieser hatte die Basis für breite Privatisierungen im Bildungssektor geschaffen, womit ansehnliche Gewinne erzielt, gleichzeitig jedoch zwei wesentliche Bedingungen für eine gute Bildungsentwicklung im Land vernachlässigt wurden: die Qualität und die Bildungsgerechtigkeit.
Strukturell ungelöst. Seit 1990 hatte es immer wieder Demonstrationen aufgrund dieser Bildungspolitik gegeben, allerdings mit weit weniger Vehemenz. Es waren damals nur die Studierenden der Universitäten, die eine staatliche Finanzierung der höheren Bildungseinrichtungen forderten und es nicht nur für unzureichend, sondern auch für ungerecht hielten, dass nur denjenigen der Zugang zu höherer Bildung offensteht, die sich eine universitäre Laufbahn auch leisten können. Erst 2006 mit der sogenannten „Revolution der Pinguine“ (in Anspielung auf die schwarz-weißen Schuluniformen), einer von SchülerInnen initiierten Bewegung während der Regierungszeit von Michelle Bachelet, organisierte sich eine Arbeitskommission, die sämtliche betroffene AkteurInnen miteinbezog. Als Ergebnis wurde das noch aus der Diktatur stammende Bildungsgesetz (Ley Orgánica Constitutional de Enseñanza, LOCE) durch ein neues ersetzt (Ley General de Educación, LGE). Substanzielle Reformen des Bildungssystems wurden damit aber leider nicht umgesetzt.
Dass diese strukturellen Probleme im Bildungssystem weiter unverändert bestehen blieben und sich trotz eines gesetzlichen Verbots offensichtlich weiterhin viel Gewinn mit der Bildung machen ließ sowie auch die enorme Verschuldung, in die viele Familien deshalb gerieten, waren der Anlass für die Gründung der Konföderation der Studierenden Chiles (Conferderación de Estudiantes de Chile, Confech). Dieser schlossen sich auch die SchülerInnen, die privaten Universitäten und andere wichtige Teile der Zivilgesellschaft an.
Irrelevante Aspekte. Eine der auffälligsten Figuren dieser Bewegung ist Camila Vallejos. Sie ist Vorsitzende der chilenischen Studierendenföderation (FECh), Geografiestudentin und Aktivistin der Kommunistischen Jugend. Sie ist erst die zweite Frau, die den Posten der Vorsitzenden innehat. Ihr Erscheinen macht nun unleugbar deutlich, dass eine Frau mittlerweile solch einen durch Macht und Entscheidungsgewalt ausgezeichneten Ort besetzen kann. Dennoch hat die Figur Camila Vallejos in Chile, einer durch die Dominanz von Männern in Machtpositionen gekennzeichneten Kultur, nicht nur wegen ihrer Führungsstärke, ihrer Verdienste und ihrer Intelligenz die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen. Stattdessen präsentierte die Presse diese Frau vor allem als außergewöhnliche Schönheit und führte allein darauf auch den Erfolg der Bewegung zurück. Mit anderen Worten: Sie erklärten die große Unterstützung, die die Bewegung gewinnen konnte, einzig und allein mit Camila Vallejos Charisma und gutem Aussehen. Den vollkommen irrelevanten Aspekt, dass Vallejos sehr hübsch ist, derart zu lancieren, garantierte den Medien besondere Aufmerksamkeit, und nachdem sich gleich mehrere Boulevardblätter nur noch auf Berichte über ihre äußere Erscheinung verlegt hatten, wurde der eigentliche Gegenstand der Debatte vollständig aus dem Fokus der Öffentlichkeit verdrängt. Eine ähnliche Dynamik konnte bereits 2006 beobachtet werden, als Michelle Bachelet Präsidentin wurde und in den Medien nur ihr Aussehen, ihr Kleidungsstil und ihre Frisur diskutiert wurden. Undenkbar, dass einem männlichen Präsidenten so etwas passieren würde.
Nun bleibt es selbstverständlich jedem/r selbst überlassen, sich ein Urteil über die Attraktivität von Camila Vallejos zu bilden. Aber diese Form der Berichterstattung, die Vallejos führende Rolle in der Bewegung – wie auch die Bewegung selbst – derart bagatellisiert, entspricht genau der Art von Bildung, die wir in Chile erhalten: einer Bildung ohne Ernsthaftigkeit, bei der Themen nur noch oberflächlich behandelt werden und bei der eine gründliche Reflektion und Analyse nicht mehr vorgesehen ist. Dies muss unweigerlich zu einer Trivialisierung der Kultur, der Politik, der Ideen und des Sozialen führen. Die eigentlichen Ursachen des Konflikts und der darin verhandelten Themen werden verschleiert. So wird die Chance auf tatsächliche Veränderungen in Chile nicht nur bei der gegenwärtigen Bildungspolitik vertan, sondern auch was Reformen im Wirtschaftssystem, die Rolle des Staates oder der Verfassung anlangt. Und wir werden damit außerdem um die Gelegenheit gebracht, irgendwann in einer Gesellschaft größtmöglicher sozialer Gleichheit zu leben.
Paula Riveros Ahumada ist Psychologin und lehrt an der Universität von Santiago de Chile.
Übersetzung aus dem Spanischen: Jens Kastner