Der weltweit größten Online-Enzyklopädie fehlt neben neuen Autor_innen vor allem eines: feministisches Wissen. Von BRIGITTE THEIßL
„Die Österreichische Frauenbewegung ist eine von sechs ‚Bünden‘ (Teilorganisationen) der Österreichischen Volkspartei“, ist in der Wikipedia zu lesen. Einmal abgesehen davon, dass es von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) recht dreist ist, ihre Frauenorganisation „Österreichische Frauenbewegung“ zu nennen, hat sich hier kein Fehler eingeschlichen: Ein Text über Frauenbewegungen in Österreich und ihre Geschichte, der sich nicht auf die ÖVP bezieht, ist in der Wikipedia schlichtweg nicht vorhanden. Zur deutschen Frauenbewegung gibt es zumindest einen Eintrag. Sein Inhalt ist jedoch so dürftig, dass er auf den Seiten der „Wikipedia-Qualitätssicherung“ eingetragen ist. Übersetzt heißt das: Er muss verbessert werden, um einem Löschantrag zu entgehen. Wie ein Artikel auf Wikipedia auszusehen hat, dafür gibt es klare Regeln – neben ausführlich formulierten Relevanzkriterien schließen sie unter anderem zu verwendende Quellen, Schreibstil und Aufbau mit ein. Welches Wissen nun aber auf Wikipedia geteilt wird, sagt nur bedingt etwas über die Prioritäten einer Gesellschaft als vielmehr einiges über die Autor_innen bzw. Administrator_innen – den inneren Kreis – der Enzyklopädie aus.
Jung, männlich, neunmalklug. 2010 lieferte eine von der Wikimedia-Stiftung (die gemeinnützige Organisation, die Wikipedia betreibt) in Auftrag gegebene Studie ernüchternde Ergebnisse in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis bei Wikipedia. Nur 13 Prozent Frauen beteiligten sich aktiv an der Online-Enzyklopädie. Der durchschnittliche Wikipedia-Autor ist männlich, Mitte zwanzig und gut ausgebildet – jener Typus, der in netzaffinen Kreisen stets den Ton angibt. Aktuellere Daten zeigen keinen Fortschritt, in der deutschsprachigen Wikipedia finden sich aktuell gerade einmal neun Prozent Frauen unter den Autor_innen. Im internationalen Vergleich hebt sich nur die USA deutlich ab, dort sind es immerhin 14 Prozent.
Dass eine solche Einseitigkeit in der Wissensproduktion ein Problem darstellt, ist auch den Macher_innen bewusst. Sue Gardner, die bis vor Kurzem als Geschäftsführerin der Wikimedia-Stiftung tätig war, wollte den Frauenanteil durch spezielle Schulungen und sogenannte Botschafter_innen erhöhen, auch Wikipedia-Gründer Jimmy Wales äußerte sich wiederholt in Interviews zur fehlenden Diversität unter den Autor_innen. Die Community, die zum größten Teil aus ehrenamtlich Engagierten besteht, trifft sich seit 2005 jährlich auf der „Wikimania“, um die strategische Ausrichtung und Zukunftsvisionen zu diskutieren. Anfang August fand die Konferenz in London statt, auch diesmal war der Gender Gap Thema. „Das Treffen der Wikimedia Women auf der Wikimania in diesem Jahr war besser besucht denn je. Dennoch gibt es noch viel zu tun. Hürden für die Integration neuer Autor*innen sind vielfältig und komplex und betreffen nicht nur Frauen. Die größte Herausforderung ist generell ein offenes und positives Klima zu erzeugen, das neue Autor*innen willkommen heißt, auch wenn sie am Anfang noch nicht alles richtig machen“, schreibt Claudia Garád, Geschäftsführerin von Wikimedia Österreich, auf Anfrage.
Mind the gap. Die Kommunikationskultur unter Wikipedia-Autor_innen gilt als rau – oder auch als sexistisch. 2011 veröffentlichten Wissenschafter_innen der University of Minnesota eine Studie, in der sie die Schwierigkeiten beschreiben, denen sich insbesondere neue Autorinnen häufiger als ihre männlichen Mitstreiter ausgesetzt sehen. Regelrechte Editier-Kriege in der deutschsprachigen Wikipedia sind ausführlich dokumentiert. Maskulinisten, die grundsätzlich im Internet sehr aktiv sind, verstehen sich als Wächter über (anti-)feministische Themen, was immer wieder in regelrechten Hetzkampagnen mündet. Wikipedia-Autorin Fiona Baine geriet 2012 ins Visier von Männerrechtsgruppen und war monatelang sexistischen Attacken ausgesetzt – bis sie schließlich das Handtuch warf. Solche Vorfälle sowie die wiederholten Löschanträge gegenüber feministischen Artikeln haben jedoch zumindest die Sensibilität gegenüber sexistischer Strukturen – nicht nur bei Netzfeminist*innen – erhöht. Die Femgeek-Bloggerinnen nahmen 2012 die deutschsprachige Wikipedia gründlich unter die Lupe und lieferten auch gleich Verbesserungsvorschläge mit. So wünschen sie sich etwa „intervenierende Maßnahmen“ von der Wikimedia-Stiftung als übergeordneter Instanz, ein Überdenken der Relevanz-Kriterien und das „Öffentlich-Machen von Mobbing, Stalking und diskriminierenden Strukturen“.(1)
Wissensarchiv. Trotz alledem ist die Wikipedia ein soziales Experiment, das auch (queer-)feministische Unterstützung verdient. 2001 gegründet ist die Enzyklopädie nach wie vor ein Projekt, das von kommerzieller Vernutzung verschont blieb. 2013 befand sich Wikipedia unter den Top Ten der global am häufigsten besuchten Websites – als einziges Non-Profit-Angebot unter börsennotierten Konzernen wie Google, Facebook und Co. Die Vision ist so simpel wie großspurig: „Imagine a world in which every single human being can freely share the sum of all human knowledge.” Als am 18. Jänner 2012 die englischsprachige Wikipedia aus Protest gegen das US-Antipirateriegesetz SOPA („Stop Online Piracy Act“) 24 Stunden lang unerreichbar blieb, ging ein Raunen durch die Netzgemeinde. „Student warning! Do your homework early. Wikipedia protesting bad law on Wednesday!”, twitterte Wikipedia-Gründer Jimmy Wales. Für Schüler_innen und Student_innen ist Wikipedia tatsächlich kaum noch aus dem Lernalltag wegzudenken – auch wenn die Enzyklopädie als (alleinige) Quelle meist weiterhin verpönt ist. Selbst Journalist_innen verwenden Wikipedia gerne für ihre Recherchen, wie eine deutsche Studie 2007 zeigte: Sie landete auf Platz drei der beliebtesten Online-Angebote. Eine 2008 veröffentlichte repräsentative Umfrage des Marktforschungsunternehmens Smart Research ergab, dass 74 Prozent der deutschen Journalist_innen Wikipedia bereits für ihre Recherchearbeit verwendet haben. Dass die Bedeutung der Onlinerecherche inzwischen noch gestiegen ist, davon ist – auch angesichts des verordneten Sparzwangs vieler Medienhäuser – auszugehen. Selbst wenn Informationen von (journalistischen) Nutzer_innen nicht einfach ohne Gegegencheck übernommen werden, stecken die Einträge in der Online-Enzyklopädie oftmals den Rahmen für die Recherche ab: Die auf Wikipedia zitierten bzw. verlinkten Quellen werden herangezogen bzw. dort aufgespürte Informationen für eine vertiefte Recherche verwendet.
Feministische Lücken. Umso fataler wirken sich die Leerstellen betreffend feministischen Wissens aus. Während es bei rund 1,7 Millionen deutschsprachiger Wikipedia-Artikel (Quelle: Wikipedia) sonst gar nicht so einfach ist, einen neuen Eintrag zu schreiben, wenn mensch nicht gerade über Expert_innenwissen zur Auferstehungskirche Kaliningrad oder der olympischen Geschichte Luxemburgs verfügt, bietet sich etwa feministischen Historiker_innen ein breites Feld zur Betätigung. Das Wikiprojekt Frauen(2) listet auf einer eigens eingerichteten Seite Artikel auf, die – wie die eingangs erwähnte österreichische Frauenbewegung – noch fehlen, verbessert werden müssen oder aber als Löschkandidaten markiert wurden. Auf der Liste der fehlenden Artikel finden sich etwa feministische Filmtheorie, Frauenrechte in Deutschland und das Archiv der deutschen Frauenbewegung. Ähnliches macht das Wikiprojekt Feminismus (3), wo nicht nur ebenfalls eine langen Liste von Leerstellen geführt, sondern auch Vernetzung und eine Unterstützung neuer Autor_innen vorangetrieben werden soll. Ein Problem, das sich beim Schreiben feministischer Einträge stellt, ist ein historisch gewachsenes: Sekundärquellen fehlen vielfach, die Geschichte von Frauenbewegungen und (queer-)feministischen Kämpfen ist lückenhaft dokumentiert. „Die Wikipedia bildet bekanntes Wissen ab. Sie dient der Theoriedarstellung, nicht der Theoriefindung“, lautet jedoch ein Grundsatz der Enzyklopädie. Für das zwischen den Generationen verlorengehende Wissen feministischer Kämpfe bietet das Netz jedoch ein enormes Potenzial: Eine kostengünstige Archivierung und eine globale Vernetzung scheinen so greifbar nahe wie nie zuvor. Dass der Kampf für Netzneutralität, Informationsfreiheit und für das Schließen der globalen digitalen Kluft dennoch nur ein Randthema (queer-)feministischen Aktivismus’ bleibt, ist deshalb verwunderlich. Zu groß scheint das Misstrauen gegenüber digitalen Technologien – zumindest bei Gruppen, die nicht den sogenannten Digital Natives zuzuordnen sind – nach wie vor zu sein.
Losschreiben! Insgesamt 97 Prozent der deutschen Wikipedia-Nutzer_innen dient die Seite ausschließlich zur Informationsbeschaffung, nur ein geringer Teil schreibt und redigiert die vorhandenen Texte. Dieser kleine Prozentsatz sieht sich auch mit der Aufgabe konfrontiert, möglichst neutrale Schilderungen von Sachverhalten einer professionellen Truppe von PR- und Marketing-Menschen gegenüber zu verteidigen. Ein Kampf, der ohne einen enormen Zuwachs an aktiven Autor_innen verloren scheint. „Die Wikipedia ist einer der fünf größten Webseiten der Welt – damit geht viel Einfluss und Macht einher und viel Verantwortung. Dieser Verantwortung sind wir uns bewusst“, sagt Claudia Garád, Geschäftsführerin von Wikimedia Österreich. Das freie Teilen von Wissen funktioniere allerdings nur dann, wenn „aus Konsument_innen von Wissen Produzent_innen von Wissen werden. Jeder von uns ist aufgerufen, die Lücken in der Wikipedia zu füllen.“
Fußnoten:
(1) Der ausführliche und lesenswerte Blogbeitrag ist hier zu finden: http://femgeeks.de/die-deutsche-wikipedia-unter-der-lupe/#4h.
(2) http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProjekt_Frauen
(3) http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProjekt_Feminismus