Für Schwarze Menschen hat Kritische Weißseinsforschung eine lange Tradition. RAFAELA SIEGENTHALER sprach mit PEGGY PIESCHE über den Import von US-amerikanischen Debatten, die Akademisierung von Weißseins-Diskursen und weiße Herrschaftsansprüche.
an.schläge: In deutschsprachigen Diskursen ist die Verwendung des englischsprachigen Begriffs „Critical Whiteness Studies“ üblich. Im Sammelband „Mythen, Masken und Subjekte“, den Sie mit herausgegeben haben, wird dennoch die Bezeichnung Kritische Weißseinsforschung verwendet – warum?
Peggy Piesche: Als wir angefangen haben, an dem Buch zu arbeiten, war das eine lange Diskussion für uns. Es ging dabei nicht bloß um eine Stilfrage, sondern um Überlegungen zur Rezeption. Critical Whiteness wurde in den späten 1990ern und frühen 2000ern in – durchaus kritischen – kulturwissenschaftlichen Disziplinen in deutschsprachigen Ländern gerne rezipiert. Aber, wie Sie schon sagen, immer mit der sprachlichen Referenz auf das Englische. Dahinter verbirgt sich die Vorannahme, dass wir uns mit etwas beschäftigen, das spannend, interessant und wichtig ist, was aber nicht auf unseren Kontext zutrifft. Man beschäftigte sich vor allem mit dem US-amerikanischen Raum. Allerdings wurde nicht wirklich verstanden, dass die dringendsten Aussagen und fundamentalen Zusammenhänge im Kritischen Weißsein – mit gewissen Einschränkungen – auch in der deutschen Gesellschaft verankert sind.
Es ist immer wieder die Rede von einem „Import“ der Critical Whiteness Studies aus den USA. Inwiefern kann tatsächlich von einem Import gesprochen werden, wenn es um Kritische Weißseinsforschung im deutschsprachigen Raum geht?
Man kann sich sprachlich natürlich leichter distanzieren mit der Behauptung: „Ja, Critical Whiteness Studies sind wichtig, aber der transatlantische Sklavenhandel hat ja mit uns nicht wirklich viel zu tun.“ Das ist schon mal die erste falsche Aussage. Auf dieser Grundlage spricht man dann davon, dass sich die Critical Whiteness Studies zwar im englischsprachigen Raum entwickelt haben, aber, nachdem bestimmte Machtverhältnisse auch für uns gelten, wir uns diese zunächst in den USA sehr gut anschauen sollten und danach die Erkenntnisse in „unsere“ Gesellschaft importieren.
Das geht erstens von historisch falschen Prämissen aus, zweitens schreibt es die Entmächtigung von Schwarzen Menschen und People of Color weiter fort. Auf diese Weise wird völlig ignoriert, dass Menschen, die hier Rassismus ausgesetzt sind, in ihrem alltäglichen Leben Widerstände dagegen aufbauen und sich vernetzen. Damit sind die Grundlagen geschaffen, die Kritisches Weißsein auch in dieser Gesellschaft verankern. Denn Kritische Weißseinsforschung re-fokussiert das Machtverhältnis und legt den Finger vor allem auf die Prozesse der Markierung durch eine weiße Perspektive. Mit dem Buch „Mythen, Masken und Subjekte“ wollten wir aufzeigen, dass es sich eben nicht um einen Begriffs-Import handelt. Denn da, wo Schwarze Menschen in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft leben, wird Kritisches Weißsein bereits praktiziert.
An welche Kämpfe Schwarzer Menschen und People of Color knüpft die Kritische Weißseinsforschung in Deutschland an? Sind diese Verbindungen zu den Kämpfen noch sichtbar?
Ja, das glaube ich schon. Ich bin da ja auch eine ungebrochene Optimistin [lacht]. Man sieht, dass immer mehr Schwarze Stimmen ermächtigt sind – sich ermächtigt fühlen. Sie fühlen sich vor allem auch deshalb ermächtigt, weil sie auf ein Archiv Schwarzen Wissens zurückgreifen. Und das als Wissen zu erkennen und einzufordern, ist schon eine Seite von Kritischem Weißsein: Es prägt die Definitionsmacht von Weißsein sowie des herrschafts-dominanten Wissens.
Wir haben im Prinzip auch nichts Neues erfunden. All das hat in einem Schwarzen kollektiven Leben lange Tradition. Das ist es, was Schwarzes Überleben in einer weißen Gesellschaft bedeutet. Ich würde sagen, da hat unser Buch sicherlich etwas dazu beigetragen und Anstöße gegeben.
Auch in Österreich hat zum Beispiel Araba Evelyn Johnston-Arthur – um dieselbe Zeit herum, als wir den Band herausgegeben haben – in die inhaltlich selbe Richtung gearbeitet. Kritisches Weißsein ist in Österreich genauso aktuell wie in Deutschland. Hier wie dort brauchte es keine weiße Hebamme, um es in diese Länder zu hieven.
Es gibt die Tendenz, beispielsweise Diskurse aus den USA schablonenhaft zu übernehmen und anzuwenden. Dadurch gehen nicht zuletzt Arbeiten wie etwa von Araba Evelyn Johnston-Arthur oder anderen Schwarzen Theoretiker*innen zur Problematik des Weißseins in Österreich ganz einfach unter. Es werden so Spuren verwischt …
Genau. Das ist eine Strategie von Weißsein im Allgemeinen, da müssen wir sehr gut aufpassen. In dieser Überlegung, dass wir von Weißsein, von Rasse und nicht von Race sprechen, geht es nicht um eine sprachliche Ästhetik. Es geht darum, diese Strategien, diese verzwickten Dynamiken aufzubrechen. Und es geht darum zu zeigen: People of Color und Schwarze Menschen leben hier, sie kommen kollektiv zusammen und tauschen sich aus – so entsteht ein Archiv von Schwarzem Wissen. Das ist der Anfang von Kritischer Weißseinsforschung.
Inwiefern werden die Critical Whiteness Studies als akademische Disziplin aus Schwarzer Perspektive problematisiert?
Als wir vor zehn Jahren mit unserem Buch angefangen haben, hat das weiße Critical-Whiteness-Forscher*innen sehr verstört. Wir sind Argumenten begegnet wie: „Wir brauchen keine Schwarzen, die uns erklären, was Kritisches Weißsein ist.“ Das ist ein absoluter Herrschaftsanspruch. Es wird nicht verstanden, wie sehr Weißsein in solchen Machtprozessen mit eingebettet ist. Und auch weiße Frauen stecken in diesen Machtprozessen mit drin. Das ist das eine. Das andere ist die damit entmächtigte Perspektive: Es sind ja nie Schwarze Menschen, die definieren dürfen, was Rassismus ist, sondern die Definitionsmacht liegt immer bei weißen Menschen. Es geht also um die Ermächtigung einer Schwarzen Perspektive. Theorie-bewusste, informierte und aktivistisch bewegte weiße Menschen sind zwar gerne bereit, sich kritisch mit Weißsein auseinanderzusetzen – aber eben nur solange sie weiterhin die Markierer*innen sind.
Araba Evelyn Johnston-Arthur benennt dieses Phänomen in ihrem Artikel „Weiß-heit“ (1) als „neue Nische am Intellektuellenmarkt“.
Ja, sie hat das sehr schön ausgedrückt. Mit diesen neuen Nischen wird der Sauerstoff für Schwarze Perspektiven wieder aus dem Raum genommen. Weiße Menschen sehen sich dann schnell mal in Reibung mit uns. Aber das ist nicht unser Anliegen. Es geht darum, etwas für uns zu machen. Und das ist eben etwas, das das Weißsein zutiefst nicht gewohnt ist, nämlich dass es nicht bedient wird, egal, ob positiv oder negativ. Das wollen wir einfach nicht mehr mitmachen.
Welches Potenzial hat die Kritische Weißseinsforschung für die antirassistische Arbeit von Weißen?
Die Kritische Weißseinsforschung ist in erster Linie – wie schon gesagt – für die Selbstermächtigung der Schwarzen Community sowie für die nachfolgenden Generationen gedacht. Es ist toll, wenn wir jetzt, zehn Jahre später, auf das Buch blicken und sehen, was alles in den Schwarzen Communitys entstanden ist, auch im Hinblick auf transnationale Vernetzungen. Das ist total super! Und das ist auch der wichtigste Aspekt.
In weißen Zusammenhängen ist es hingegen wichtig zu verstehen, dass sie sich durchaus mit sich selbst beschäftigen können, aber ohne uns dabei zu zerreiben. Und dass es wie gesagt keine Bewegung gegen sie, sondern für uns ist. Für Weiße geht es darum zu begreifen, was es heißt, auf einmal nicht im Zentrum zu stehen, auch wenn man daran gewöhnt ist, immer adressiert zu werden, und auch durch diesen Schmerz zu gehen. Wir haben aber genausowenig davon, wenn sich Weiße schuldbewusst und schamhaft ihrer Geschichte annehmen und sagen, dass alles ganz furchtbar war bzw. ist. Denn damit bleiben die Dynamiken und Strategien der Macht aufrechterhalten.
Die Kritische Weißseinsforschung etabliert sich zu einer akademischen Disziplin. Sehen Sie darin eine Schwächung des Schwarzen Wissensarchivs?
Als Akademikerin finde ich natürlich, dass es damit sehr wohl gestärkt wird. Sie haben ganz Recht, die Kritische Weißseinsforschung ist schon sehr akademisch. Aber Kritisches Weißsein an sich ist keine akademische Disziplin, sondern für Schwarze Menschen eine Überlebensstrategie. Für sie war es immer schon wichtig, vor allem durch das Kollektiv ein Archiv von Wissen aufzubauen und weiterzugeben. Und damit auch für nachfolgende Generationen die Möglichkeit zu schaffen zu leben und zu überleben.
Ich glaube, der Grund, warum die Kritische Weißseinsforschung anfangs in der Akademie verankert wurde und von dort aus in den deutschsprachigen Raum kam, hat damit zu tun, wie sich Wissen bildet und was von der Mehrheitsgesellschaft als Wissen anerkannt wird. Am machtvollsten wird Wissen in der Schule bzw. an der Universität zelebriert.
Wir alle gehen ja hier durch diese Bildungsprozesse: Wir bekommen Kinderbücher vorgelesen, wir gehen alle zur Schule, wir versuchen zu studieren. Es ist ein hartes Leben, wenn man ständig mit einem Archiv von Wissen konfrontiert wird, das nichts mit der eigenen Lebenswelt zu tun hat und zudem negativ auf einen selbst referenziert.
Wir waren nicht die Ersten, die gesagt haben: Da muss es doch was anderes geben! Wir alle kennen das, die einzigen in einem Seminar zu sein, die versuchten, eine Hausarbeit zu irgendeinem relevanten Thema zu schreiben, und wie das dann nicht als Thema anerkannt wurde, weil jemand behauptete, es wäre nicht wichtig. Deshalb denke ich, dass es auf jeden Fall stärkend wirkt, dass sich Kritisches Weißsein in den akademischen Diskursen etabliert. Es ist auch wichtig zu sehen, dass Aktivismus und akademisches Arbeiten für uns oft zusammenhängen. Ich kann gar nicht nur Akademikerin sein, ich bin gleichzeitig immer auch Aktivistin.
Zu sagen, die Kritische Weißseinsforschung sei eine abgehobene Debatte, die nichts mit uns zu tun hat, ist ein sehr privilegierter Standpunkt aus einer weißen Perspektive. Aber auch Schwarze Menschen, die nicht in der Akademie sind, können nicht einfach sagen, Kritisches Weißsein habe nichts mit ihnen zu tun. Rassismus hat was mit ihnen zu tun, Fremdbestimmung hat was mit ihnen zu tun. Und sich daraus zu befreien, hat auch etwas mit ihnen zu tun.
In Deutschland hatten wir gerade diese extrem intensive und interessante Diskussion zu Rassismus in Kinderbüchern. Das war keine akademische Debatte. Das waren Familien, das waren Kinder, die gesagt haben: „Uns reicht’s! Das wollen wir nicht mehr lesen!“ Weil Kritisches Weißsein aus der Akademie heraustritt und immer mehr auch in andere Diskurse eindringt, war es möglich, sich mit solchen Aktionen selbst zu ermächtigen.
Peggy Piesche, Schwarze deutsche Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, publizierte zu Rassifizierung von Schwarzen Images, Kolonialgeschichte und kollektiver Erinnerung. Piesche ist u.a. Mitherausgeberin des Sammelbandes „Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland“ (2005) sowie Herausgeberin des Buches „Euer Schweigen schützt euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland“ (2012).
Rafaela Siegenthaler arbeitet derzeit an ihrer Masterarbeit zum Thema „Antirassistisch-feministische Geschichtserzählung aus Schwarzer Perspektive“ am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.
Fußnoten:
(1) Araba Evelyn Johnston-Arthur: „Weiß-heit“. In: Araba Evelyn Johnston-Arthur, Ljubomir Bratic, Andreas Görg: Historisierung als Strategie. Positionen – Macht – Kritik. Eine Publikation im Rahmen des antirassistischen Archivs, BUM – Büro für ungewöhnliche Maßnahmen. Wien 2004, S. 10–11