Der gesellschaftliche und mediale Umgang mit dem Vierfach-Mord in Potsdam zeigt, wie tief Ableismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Von Yuria Knoll und Clara Porak
In der Nacht des 28. April 2021 wurden in einem Pflegeheim für Menschen mit Behinderung vier Bewohner:innen getötet, eine fünfte Person wurde schwer verletzt. Die mutmaßliche Täterin ist eine Pflegekraft. Die Tatverdächtige wurde auf Anweisung der Staatsanwaltschaft in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, dort soll ihre Schuldfähigkeit geprüft werden. Es lägen keine „Mordmerkmale“ vor, sagte die Sprecherin der Potsdamer Staatsanwaltschaft. Warum? Dazu wollte sie keine näheren Angaben machen.
Die Gedenkfeier wurde mit vier weißen Rollstühlen inszeniert, die Geschichten der Opfer wurden nicht erzählt, stattdessen ging das Bild der leeren Rollstühle durch die Medien. Der Fokus lag weder auf den Opfern noch auf Schutz und Unterstützung der verbleibenden Bewohner:innen nach der Tat, viel war hingegen von der Belastung des Pflegepersonals die Rede. In Kommentarspalten wimmelte es nur so von problematischen Aussagen („Die hatten doch sowieso kein schönes Leben“) bis hin zum Hashtag #PflegtEuchDochSelbst.
Im Interview zeigte sich der theologische Vorstand des Oberlinhauses Matthias Fichtmüller irritiert, dass die Geschehnisse in seiner Einrichtung nun den Anlass für eine allgemeine Debatte über den Umgang mit Menschen mit Behinderung bieten sollen. Das Thema Gewalt in Heimen sei von Bedeutung, im Oberlinhaus sei man nun aber mit der Trauerbewältigung und Aufklärung beschäftigt. Auch wehre er sich gegen Einmischungen von außen. Doch genau diese Debatte, die Fichtmüller so fürchtet, braucht es. Wir müssen reden, reden über die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderung und wie diese zu Gewalt führt. Vier Menschen sind tot. Es braucht dringend Einmischung von außen. Menschen mit Behinderung haben ein Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Leben, das ist ein Menschenrecht. Noch immer leben viele Menschen mit Behinderung in Wohngruppen oder Heimen, die Merkmale sogenannter totaler Institutionen haben. Totale Institutionen regeln und kontrollieren alle Lebensbereiche eines Menschen, Kontakt zur Außenwelt besteht kaum. Solche Institutionen begünstigen Gewalt. Sie sind kein sicherer Ort und sie machen es der nichtbehinderten Gesellschaft leicht. Wenn wir behinderte Menschen nicht in unserem Alltag wahrnehmen, nehmen wir auch ihre Diskriminierung nicht wahr. Totale Institutionen schaffen eine klare Abgrenzung zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen.
Eine erste österreichische Studie aus dem Jahr 2019 zeigte, dass Menschen mit Behinderung deutlich häufiger von Gewalt betroffen sind als Menschen ohne Behinderung. Im Fokus der Studie standen Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderung, die Einrichtungen der Behindertenhilfe nutzen, in psychosozialen Einrichtungen leben oder sich im Maßnahmenvollzug befinden. Die Studie deutet darauf hin, dass Gewalt besonders häufig ist, wenn das Machtgefälle zwischen Unterstützenden und den Menschen mit Unterstützungsbedarf groß ist: Eine besonders gefährdete Gruppe sind Menschen, die Unterstützungsbedarf bei Grundbedürfnissen wie Körperpflege oder Kommunikation haben. Die Gewalttat in Potsdam ist also kein überraschender Einzelfall, sondern zeigt, wie groß das Problem der Institutionalisierung ist.
Es geht dabei nicht um „bessere Kontrollen“, es geht nicht um den Pflegenotstand oder schlechte Arbeitsbedingungen. Es geht um Deinstitutionalisierung. Jeder Mensch kann mit den richtigen Unterstützungsangeboten ein selbstbestimmtes Leben führen. Doch unsere Gesetze, unsere Gesellschaft machen es Menschen mit Behinderung schwer. Noch immer müssen sie für ein Leben außerhalb von Einrichtungen kämpfen. Darum wird sich diese Tat nicht durch eine Hashtag-Kampagne und ein paar Artikel aufarbeiten lassen. Es braucht strukturelle Veränderungen wie eine bundesweit einheitliche Lösung für persönliche Assistenz, auch für Menschen mit Mehrfachbehinderung, denn diese ermöglicht ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Institutionen. Persönliche Assistenz gibt es sowohl in Deutschland als auch Österreich, doch die Budgets dafür wurden in den letzten Jahren immer wieder gekürzt, was viele Betroffene zum Umzug in ein Heim gezwungen hat. Dieser politische Missstand geht uns alle an: Wir müssen endlich weg vom christlichen Gedanken der Barmherzigkeit und hin zu Solidarität.
Eine Kooperation mit „andererseits“. Yuria Knoll, 25, ist Schauspielerin, Tänzerin und Rollstuhlfahrerin. Clara Porak, 23, ist freie Journalistin und Teil des Teams der Initiative „andererseits – für Inklusion im Journalismus“.