Wohnungslose Menschen trifft der Lockdown hart und Frauen oft am härtesten. Im Pandemie-Winter wird noch mal offensichtlicher, was schon lange falsch läuft. Von Nora Noll.
Gelb gestrichenes Zimmer, Hochbett, Bad, Balkon. „Meine eigenen vier Wände in Berlin!“, ruft Ella in die Handykamera. Es ist Anfang Februar, seit einer Woche wohnt die 27-Jährige in der Quarantänestation in der Lehrter Straße, Berlin. „Gerade ist es wie im Hotel. Das ist das Beste, was ich seit einem Jahr hatte.“
Kurz nach Silvester fuhr Ella von Baden-Württemberg nach Berlin. Sie kam in der Frauennotschlafstelle Marie unter. 28 Nächte wurden ihr dort zugesichert – tagsüber hat die Stelle geschlossen. Dann musste sich Ella wie die übrigen Bewohnerinnen irgendwie warmhalten. Das ist in Pandemie-Zeiten nicht einfach. Viele Tageseinrichtungen und Kältecafés sind aus Infektionsschutzgründen geschlossen, öffentliche Aufenthaltsorte wie Bibliotheken sowieso. „Ich war viel unterwegs und habe mich dann erst mal orientiert. Aber ich dachte auch: Scheiß auf Berlin, mir ist arschkalt, ich möchte einfach meine Hände wieder spüren.“ Als ihre Zimmernachbarin an Corona erkrankte, war die Quarantäne für Ella, so zynisch es klingt, ein Glücksfall.
Jeden Winter wird offensichtlich, was sonst gerne verdrängt wird: In Deutschland wie in Österreich ist das Grundrecht auf Wohnen ein leeres Versprechen, Menschen erfrieren auf den Straßen der reichsten Länder der Welt. Die Corona-Pandemie macht die krasse Ungleichheit noch deutlicher. Denn der Lockdown vergisst wohnungslose Menschen, verschärft ihre Lage noch.
An der Lebensrealität vorbei. Wenn ein Großteil der Tageseinrichtungen wegfällt, ist das nicht nur ein Kälteproblem. Die Suche nach öffentlichen Toiletten ist schwieriger, von Duschen ganz zu schweigen. Für Frauen insbesondere während ihrer Menstruation ein besonders großes Problem. Auch das Sozialleben ist dadurch eingeschränkt, Orte fürs Zusammensein fehlen. „Wohnungslose kommen im Großen und Ganzen mit dem Lockdown gar nicht zurecht“, sagt Corinna Lenhart. Sie ist als Teil der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen mit Betroffenen in Kontakt. „Es fehlen die sozialen Kontakte, es ist ja auch verboten, in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken und sich in Gruppen aufzuhalten.“ Die Infektionsschutzgesetze gingen an der Realität von Menschen ohne Zuhause vorbei. „Und wenn die Bußgelder nicht bezahlt werden können, droht ein Gerichtsverfahren und im Zweifelsfall Gefängnis.“
Wie oft die Polizei Corona-Regeln gegen obdachlose Personen durchsetzt, lässt sich schwer sagen. Lenhart stellt aber fest, dass zumindest in ihrem Wohnort Pforzheim die Menschen von den Straßen verschwinden.
Diese Verdrängung beobachtet auch Regina Amer in Wien. Die Aktivistin kämpft u. a. mit der Organisation HOPE für die Rechte Wohnungs- und Obdachloser. „Menschen verstecken sich in den Parks. Die Polizei ist verstärkt unterwegs und darf jeden kontrollieren, vor allem wenn man keine Maske hat“, sagt Amer. Regelmäßig neue Masken zu kaufen ist für die meisten jedoch nicht möglich. Das Geld ist ohnehin noch knapper als sonst, jetzt, wo es draußen weniger Pfand zum Sammeln und weniger Passantinnen mit Kleingeld gibt.
Die Notschlafstellen sind für viele Menschen keine Option. „Soweit ich weiß, gehen immer weniger Menschen in die Einrichtungen, weil die Gefahr angesteckt zu werden wesentlich höher ist als im Freien“, sagt Amer. Wenn es zu einer Corona-Infektion komme, sei die Quarantäne für Suchtkranke sogar gefährlich. Denn wegen fehlender Suchtbetreuung bedeute das: kalter Entzug, physische und psychische Extrembelastung und im Zweifelsfall gewaltvolle Polizeieinsätze.
Versteckte Wohnungslosigkeit. Aber nicht erst seit der Pandemie kommen die Notschlafstätten für viele Menschen nicht infrage. Personen ohne sicheren Aufenthaltsstatus fanden in den Unterkünften in Wien auch schon vorher keinen verlässlichen Schutz. Zwar würde in den Einrichtungen offiziell nicht nach Papieren gefragt, aber es komme immer wieder zu nächtlichen Polizeikontrollen, berichtet Amer. Frauen seien in gemischten Unterkünften zudem sexualisierter Gewalt und Übergriffen ausgesetzt. Die Anlaufstellen ausschließlich für Frauen reichen laut Amer nicht aus. Der politische Fokus richte sich immer noch auf das Klischeebild eines Wohnungslosen: mittleres Alter und cis-männlich.
Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sind rund ein Viertel aller Wohnungslosen in Deutschland Frauen. In Österreich sollen es über dreißig Prozent sein. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, denn Frauen leben häufiger in verdeckter und dadurch statistisch nicht erfasster Wohnungslosigkeit. „Sie leben dann irgendwo mit Männern zusammen, die sie ausbeuten und sexuell nötigen“, so Corinna Lenhart. Wenn das passende Hilfsangebot fehlt, steigt der Druck, in solch unerträglichen Wohnsituationen zu bleiben. Lenhart hat das vor neun Jahren selbst erlebt: Sie trennte sich von ihrem Mann wegen häuslicher Gewalt, wurde aber mit ihrem 16-jährigen und damit „erwachsenen“ Sohn nicht im Frauenhaus aufgenommen. Mehrere Monate lebte sie in verdeckter Wohnungslosigkeit, bis sie eine eigene Wohnung fand.
Noch weniger wird auf die Bedürfnisse queerer Wohnungsloser Rücksicht genommen. Regina Amer ist mit queeren Sozialarbeiterinnen in Kontakt und setzt sich für die Rechte wohnungsloser trans Menschen ein. Fraueneinrichtungen würden trans Frauen systematisch ausschließen, wenn der Geschlechtseintrag im Pass nicht angeglichen sei, so Amer. Gemischte Unterbringungen sind in Anbetracht von Queer- und Transfeindlichkeit keine Option.
Dabei müsste es in der Pandemie doch so einfach sein. Hotels, Hostels und Ferienwohnungen stehen leer und freuen sich vermutlich über Subventionen – warum also keine staatlich finanzierte Öffnung? Die Forderung wird in sozialen Medien laut, Organisationen wie die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen formulieren sie schon seit der ersten Infektionswelle. Berlin kommt dem scheinbar nach: Drei Hostels bieten seit Oktober im Rahmen der Kältehilfe Notübernachtungen an, eines davon ausschließlich für Frauen. Was auf den ersten Blick nach einer Verbesserung der Infrastruktur aussieht, dient allerding nur der Erhaltung des Status quo. Die angemieteten Zimmer ersetzen gerade mal die Plätze, die wegen Abstandsregeln und Personenbeschränkung in den regulären Unterkünften wegfallen.
Schlafsärge. Es ist mit der Kältehilfe und dem äquivalenten Wiener „Winterpaket“ so wie mit anderen Hilfsmaßnahmen auch: Sie sind bloße Symptombekämpfung. Die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen macht immer wieder klar, worum es eigentlich gehen muss: Um Wohnungen. Corinna Lenhart erzählt von sogenannten Schlafnestern, die in Ulm aufgestellt wurden – längliche Holzkisten, sie nennt sie nur „Schlafsärge“. „Da besteht ständig die Angst, dass die angezündet werden. Dass man jemanden so menschenunwürdig unterbringen will, trotz leerstehendem Wohnraum …“
Genau das wollen die beiden Aktivistinnen Vegiterrier und Pepper1 skandalisieren. Sie waren im vergangenen Oktober an der Aktion „Leerstand Hab-ich-Saath“ beteiligt und besetzten zusammen mit einer Gruppe von Wohnungslosen und anderen Aktivistinnen einen von Verkauf und Abriss bedrohten Gebäudekomplex in der Habersaathstraße in Berlin.
Die Idee: Leerstand anprangern, in der Pandemie von unten aktiv werden und einen Raum schaffen ohne staatliche Kontrolle. „Unser Ziel war Selbstverwaltung“, erzählt Pepper. Vegiterrier ist selbst wohnungslos und hat in der Vergangenheit auch auf der Straße gelebt. Als trans Frau fühlte sie sich in ihrer queeren Punk-Community sicherer als in staatlichen Einrichtungen. Die Idee anderer Habersaath-Aktivistinnen, mit eidesstattlichen Erklärungen der wohnungslosen Besetzerinnen das Recht auf Unterbringung einzufordern und Druck zu machen, lehnte sie deshalb ab. „Dann hat der Staat die Pflicht zur Unterbringung, aber egal wo – vielleicht in einer Traglufthalle oder in der Psychiatrie.“
Der Versuch, rechtlich eine Beschlagnahmung der aktiv leer gehaltenen Wohnungen durchzusetzen, blieb erfolglos. Nach neun Stunden räumte die Polizei das Gebäude. „Am liebsten hätte es die Regierung, dass die Obdachlosen nicht existieren“, so Pepper. Die Räumung eines Wohnungslosen-Camps an der Rummelsburger Bucht Anfang Februar sei Ausdruck dieser Politik. Einer Politik, gegen die sie und Vegiterrier und die anderen von der Habersaathstraße weiterhin ein Zeichen setzen wollen.
Auch Ella ist es wichtig, gehört zu werden. Sie lehnt zwar staatliche Unterstützungsstrukturen nicht ab – sonst säße sie jetzt nicht im gelben Zimmer in der Lehrter Straße. Aber sie hat schon Sozialarbeiterinnen kennengelernt, die überhaupt kein Verständnis für ihre Situation hatten, die nur auf das Einhalten von Regeln achteten: „Man fühlt sich in dem Moment wie ein Hund: Wenn du keine Rolle machst, dann kriegst du einen Elektroschock. Diese negative Konditionierung, das fand ich am schlimmsten.“ Sie hat auch deshalb Baden-Württemberg verlassen, weil sie raus wollte aus ihrem Frauenwohnheim dort, mit vier Zimmernachbarinnen und ohne Aussicht auf Veränderung. So, wie Deutschland und Österreich das Recht auf Wohnen umsetzen, schließen sich Selbstbestimmung und ein Dach überm Kopf oft aus.
Nora Noll arbeitet als freie Journalistin und studiert Literaturwissenschaft in Berlin. Als Teil der Schlafplatzorga unterstützt sie ehrenamtlich Geflüchtete und Migrant*innen bei der Wohnungssuche.
1 Kommentar zu „Kein Recht auf Wohnen“
Danke, liebe Corinna. Und danke auch allen, die nicht aufgeben.
Rüdiger