Was in Wien unmittelbar nach der Befreiung geschah und an welchen Orten diese Zeit heute noch sichtbar ist, zeigt das Buch „Wien 1945“. FIONA SARA SCHMIDT sprach mit der Autorin über ihre Recherche und über mutige Zeitzeuginnen.
Als Käthe Sasso mit ihrer Freundin Mitzi Posch am 31. Mai 1945 zu Fuß aus dem Konzentrationslager Ravensbrück kommt und über die Reichsbrücke den 2. Bezirk erreicht hat, steigen sie auf der Praterstraße in die Straßenbahn. In „Wien 1945“ berichtet sie, was geschah, als sie die Schaffnerin zum Bezahlen aufforderte: „,Bitte, wir zwei kommen aus dem KZ, wir haben kein Geld. Wir können uns keinen Fahrschein kaufen‘, habe ich gesagt. Die ganze Tramway war voller Leute. Niemand hat ein Ohrwaschl gerührt. Die Schaffnerin mit dem schönen Abzeichen hat zur Schnur raufgegriffen und abgeläutet und hat uns gezwungen auszusteigen. Das war die Begrüßung in der Heimat.“ (1)
Keine Aufbruchstimmung. Die bei ihrer Rückkehr 19-jährige Sasso war als Jugendliche im kommunistischen Widerstand, zurück in Wien suchte sie Kontakt zu Familien der ermordeten WiderstandskämpferInnen, die im Landesgericht hingerichtet worden waren. Mehr als 1.200 Menschen starben dort während der 369 Wochen andauernden NS-Diktatur durch das Fallbeil. Sasso trug freiwillig zum Wiederaufbau bei und ging „Ziegelschupfen“, obwohl sie als Opfer von den Arbeiten eigentlich freigestellt war. Doch sie wollte wissen, wie unter den Frauen gesprochen wird, und ihre Befürchtungen wurden bestätigt: „Schuld waren die Befreier, nicht die Nazis, die den Krieg angezettelt hatten.“ Auch bei Amtsgängen bekam sie weiterhin die Verachtung der BeamtInnen zu spüren.
Käthe Sasso ist eine der Zeitzeuginnen, die die Autorin bereits für ihren Sammelband „Frauen 1938. Verfolgte – Widerständige – Mitläuferinnen“ (Milena Verlag 2008) interviewt hat. Ihr neues Buch versammelt kurze Episoden und Berichte rund um die unmittelbare Nachkriegszeit, die sich zumeist an Orten festmachen: „Ich finde es bemerkenswert, wie Orte in Wien bezeichnet oder eben auch nicht bezeichnet sind“, berichtet die Autorin über die Entstehung der Textsammlung. „Ich habe durch die Gespräche mit den ZeitzeugInnen Orte wie die Volkssolidarität in der Rathausstraße entdeckt. Käthe Sasso hat mir etwa erzählt, wie wichtig es für die politischen RückkehrerInnen war, sich dort zu treffen. Man wollte sich mit anderen Verfolgten zusammentun, weil man wusste, wofür man gekämpft und was man durchlitten hatte. Dass die Gruppe 40 des Zentralfriedhofs zur Gedenkstätte wurde, ist Käthes Betreiben zu verdanken. Unter Schwarz-Blau haben sie versucht, das Areal zu schleifen, aber sie hat Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, damit das verhindert werden konnte.“
Auch das Russendenkmal am Schwarzenbergplatz, für die 18.000 in Wien getöteten Soldaten der sowjetischen Armee, die in der ganzen Stadt und vielen Parks begraben wurden, die Reichsbrücke, deren Sprengung als einzige Donaubrücke vereitelt werden konnte, das Riesenrad, oder aber der Schwarzmarkt im Resselpark am Karlsplatz sind markante Orte, deren Geschichte im Buch erzählt wird.
Krieg & Frieden zugleich. Vilma Neuwirth, Jahrgang 1928, Fotografin und Autorin von „Glockengasse 29. Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien“, hatte als „Mischling 1. Grades“ dank ihrer Mutter in Wien überlebt. Ihr Buch endet mit der Befreiung, ihre Erinnerung an die Zeit danach zeigt die Gleichzeitigkeit von Krieg und Frieden. Denn noch unmittelbar vor Kriegsende gab es in der Förstergasse Erschießungen, die Nazis hatten in den letzten Tagen nichts mehr zu verlieren, erinnert sie sich.
Am 10. April hissten Unbekannte am Stephansdom die weiße Flagge. Am 13. April war die Schlacht um Wien beendet, das zunächst unter sowjetischer Verwaltung stand. Als in Wien die Regierung übernommen wurde, wurde in Amstetten noch gekämpft. Es dauerte noch bis August, bis die anderen Alliierten Wien erreichten und die Bezirke aufgeteilt wurden.
Nach dem Einmarsch der Roten Armee wandelten sich die regimetreuen Nachbarn: „So wie sie sich 1938 von Menschen zu Bestien gewandelt hatten, so brauchten sie jetzt Alibijuden. Damit uns, Gott behüte, nicht noch was passiert.“ Als nach dem Krieg der Hunger groß war, half ihr ein ebenso Mittelloser weiter: „Ein Bekannter von uns, der Herr Seliger, der in der Nazizeit bei uns als U-Boot untergetaucht war, kam eines Tages und brachte einen russischen Offi zier mit.“ Der jüdische Offi zier aus Moskau nahm sie zu Lagerhäusern der Wehrmacht mit, wo sie sich mit Lebensmitteln eindecken konnte.

Keine Heimat. Dass das „Goldene Wiener Herz“ ein Phantasma war und keineswegs alle froh waren, dass Wien befreit war und Verfolgte zurückkehrten, musste auch Elisabeth Markstein erfahren. Sie fl oh als kleines Kind mit ihren Eltern nach Moskau. Ihr Vater war Johann Koplenig, der KPÖ-Vorsitzende und spätere Vizekanzler in der provisorischen Regierung Renner. Kurz nach der Befreiung fl ogen sie Richtung Wien: „Die Fahrt von Vöslau nach Wien im Juni 1945 – meine erste Begegnung mit der Heimat. Ich saß da, wie erschlagen. Und wusste sofort: Hier bin ich fremd.“ Kontakte mit Gleichaltrigen hatte sie nicht, im Kino sah sie sich zum Trost alleine schnulzige Filme an. Das zerstörte Wien erschloss sie sich nach und nach auf traurige Weise, denn eine Mitschülerin aus Moskau bat sie, das Grab des Sohnes einer Bekannten zu suchen. Sie klapperte die gesamte Stadt ab, suchte im Türkenschanzpark, wo es vermutet wurde, sie sah „(…) überall Hügel mit dem roten Sowjetstern, manchmal auch nur mit einer kleinen Tafel. Doch meinen Gefallenen konnte ich nicht fi nden. Mir blieb nur, einen traurigen Brief nach Moskau zu schreiben. So lernte ich Wien kennen.“
Mythos Trümmerfrauen. Es ist der Verdienst der feministischen Forschung, dass die Frauen der Aufbaugeneration immer mehr in den Fokus von historischen Untersuchungen gestellt wurden. Wiederaufbau war Frauenarbeit, das Überleben musste gesichert und häufi g alleine eine Familie ernährt werden. Frauen stellten nach dem Krieg 65 Prozent der Bevölkerung Wiens. Die neuen Handlungsspielräume und die neue Selbstständigkeit, die sich dadurch für Frauen ergaben, werden wenig erinnert. Stattdesen wird gerne der sich aufopfernden „Trümmerfrauen“ gedacht. Wie kam es, dass sie als treibende Kraft des Wiederaufbaus erinnert wurden und zum Teil noch werden? „Die Tatsache, dass diese Frauen als bekennende und fanatische Nationalsozialistinnen in den ersten Monaten der Nachkriegszeit dazu verpfl ichtet wurden, die Straßen von Schutt zu befreien, war völlig in Vergessenheit geraten“, schreibt Stein thaler. Unter Schwarz-Blau gab es eine einmalige Entschädigungszahlung von 300 Euro für Frauen, die mindestens ein Kind geboren haben und 2007 als bedürftig galten. Dabei wurde allerdings nur nach Jahrgang und nicht nach politischer Mitverantwortung gefragt. Im Gespräch erläutert Steinthaler, warum seit der Nachkriegszeit die „Trümmerfrauen“ zu heldenhaften schuldlosen Opfern stilisiert wurden: „Die Mythenbildung hat sich über Jahrzehnte entwickelt und liegt wohl am Wille zum Vergessen und zur Selbstbestimmung und dass selbstbewusst in die Zukunft geschaut werden sollte. Im Laufe der Zeit wurde dabei immer mehr weggelassen. 1945 stand in den Zeitungen, es habe keine ÖsterreicherInnen gegeben, die sich für Hitler begeistert haben, das kam immer nur von außen. Das war die Propaganda nach dem Krieg: Wir haben nichts dafür gekonnt, wir sind nur hineingerutscht.“
(1) Zitate aus Evelyn Steinthaler: Wien 1945, Milena Verlag 2015, 18,90 Euro