Die „Krise“ war doch schon vorbei, warum gehen jetzt Staaten bankrott? Wer und was ist eigentlich in der Krise und warum? Die feministische Ökonomin KÄTHE KNITTLER hat Antworten für alle, die bei komplizierten Wirtschaftsberichten längst ausgestiegen sind. Protokolliert von GABI HORAK

an.schläge: Was ist diese „Krise“? Warum spielt die Wirtschaft seit 2008 verrückt?
Käthe Knittler: Um den Ursachen für die Krise auf den Grund zu gehen, müssen wir weiter zurückschauen: In den Nachkriegsjahren bis in die 1970er Jahre war ein Wirtschaftssystem dominant, das als Fordismus bezeichnet wird. Das hat für 30 Jahre, zumindest für einen Teil der Welt, ganz gut funktioniert: Wirtschaftswachstum, relativ niedrige Arbeitslosigkeit, aufbauend auf Massenproduktion und Massenkonsum. Dieses System ist in den 1970er Jahren in die Krise gekommen, Massenproteste haben zugenommen. Ende der 70er kam es zur Ölkrise, und das System fixer Wechselkurse ist zusammengebrochen, insgesamt hat sich das negativ auf die Gewinne ausgewirkt. War die Politik bis dahin noch von einem Denken geprägt, das Staatsinterventionen ebenso wie wirtschaftliche Ankurbelungsmaßnahmen erlaubte, kam es in den 1980er Jahren zu einem wirtschaftspolitischen Umschwung hin zum Neoliberalismus, wie wir ihn heute kennen: Zurückdrängen von Gewerkschaften, eine Erstarkung von Unternehmensinteressen. Zugleich gibt es einen starken Anstieg an Gewinnen aus Finanztransaktionen, d.h. Gewinne werden weniger mit realen Gütern, Dienstleistungen, Rohstoffen gemacht, sondern damit, dass das Geld sich am Finanzmarkt scheinbar durch sich selbst vermehrt, durch den Handel über Spekulationsgeschäfte und Wechselkursgeschäfte u.Ä. – der Finanzsektor hat in den letzten zehn bis zwanzig Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen.
Und was ist passiert, dass dieses System nun nicht mehr funktioniert? Wie war der Krisenverlauf?
Zunächst gab es in den USA die „sub prime“-Krise oder „Immobilien-Krise“. Sub-Primes sind Wertpapiere mit niedriger Bonität, „schlechten“ Gläubigern oder Gläubigerinnen. Das waren in den USA diese Hypothekarkredite, die massenhaft an Personen vergeben wurden, obwohl klar hätte sein müssen, dass sie die Kredite schwer zurückzahlen können. Die Banken blieben dann auf diesen Krediten sitzen, als der Immobilienmarkt zusammengebrochen ist. Der Grund, warum aber so ein großer Bedarf für diese Kredite bestanden hat, war, dass die Löhne in den USA für den Großteil der Menschen so niedrig sind, dass sie ohne Kredite nicht leben können oder keine Häuser bauen können, weil es auch keinen staatlichen Wohnungsbau gibt. Das hat mit der neoliberalen Umstrukturierung zu tun: Die Lohneinkommen sind gesunken. Ähnliche Symptome finden sich auch in Spanien. Im Laufe der Immobilien-Krise gab es noch die leise Hoffnung, dass sich die Krise auf das eine Marktsegment in den USA beschränkt. Aber die Krise hat doch auf die Banken übergegriffen, das war der Beginn der „Finanzkrise“. Die Banken untereinander haben das Vertrauen verloren, spätestens als die große US-Bank „Lehman Brothers“ in Konkurs gegangen war. Die Banken verleihen ja untereinander Geld und handeln mit Krediten, und wenn dann das Vertrauen nicht mehr da ist, verlangen sie mehr Zinsen voneinander. Dadurch wird es immer schwieriger und teurer, sich Geld auszuborgen. Damit werden aber auch Kredite für KundInnen und Unternehmen teurer. So ist die Krise übergeschwappt auf den sogenannten realen Sektor; 2008/2009 kam es zu ersten großen Firmenpleiten und Entlassungen. Damit hatten auch Privathaushalte weniger Geld, sie konnten weniger konsumieren, und auch das wirkte sich für die gesamte Wirtschaft nachteilig aus. Somit kam es von der „Finanzkrise“ zur „Wirtschaftskrise“. Die „Wirtschaftskrise“ 2009 führte zu einem beispiellosen Rückgang des Wirtschaftswachstums. Das BIP ist kleiner geworden, anstatt – wie üblich – größer, je nach Land in unterschiedlichem Ausmaß, und die Arbeitslosigkeit ist in allen Ländern massiv angestiegen. Plötzlich haben die ganzen neoliberalen Wirtschaftsbosse und Bankenbosse nach Hilfe vom Staat gerufen. Diese Hilfe gab es auch, die Staaten haben viel Geld zugeschossen. Zugleich sind durch die „Wirtschaftskrise“ die Lohneinkommen, Konsumausgaben etc. gesunken, d.h. in all den Bereichen hat der Staat über Steuern weniger eingenommen, hatte aber höhere Ausgaben durch die Konjunktur-Maßnahmen und höhere Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung. So landeten wir beim vierten Schritt, bei dem wir heute sind, bei der „Staatsschuldenkrise“.
Was heißt denn „neoliberale Wirtschaftspolitik“ genau?
Neoliberale Wirtschaftspolitik fordert: Privatisierungen, Deregulierungen, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und auch des Finanzmarkts, möglichst wenige Staatsinterventionen – kurzum neoliberale Wirtschaftspolitik ist ein großer Umverteilungsmechanismus. Die Wirtschaft an sich sei stabil, wird da behauptet, und führe von sich heraus nicht zu Ungleichgewichten und Wirtschaftskrisen – wenn es dazu kommt, dann seien externe Faktoren daran schuld. Deshalb Rückzug des Staates aus allen Bereichen, außer zum Schutz des Privateigentums, zur Sicherstellung der Rechtsverträge, Landesverteidigung u.Ä.
Neoliberale Wirtschaftspolitik ist seit den 1980er Jahren dominant: vertreten in Großbritannien durch Margret Thatcher, in den USA durch Ronald Reagan. Zur Durchsetzung der Politik kam immer die Drohung: Wenn das nicht passiert, dann wandern die Unternehmen ab. Ähnliche Drohungen gibt es heute noch, allerdings kommen durch die Krise neue Durchsetzungsmechanismen hinzu. Griechenland wird de facto erpresst: Entweder die Sparmaßnahmen im öffentlichen Bereich und Privatisierungen etc. werden umgesetzt, oder es gibt kein Geld. Dieselben Forderungen wurden in den 1980er Jahren über IWF und Weltbank übrigens auch an verschuldete Länder Afrikas und Lateinamerikas gestellt – mit massiven Verarmungsfolgen für die Bevölkerung.
Wurde neoliberale Wirtschaftspolitik durch die Krise sogar noch gestärkt?
Als die Wirtschaftskrise die Unternehmen und Banken direkt stark betroffen hatte, war es nicht so. Da wurde sogar nach staatlicher Unterstützung und Regulierung gerufen. Kaum hatte sich die Wirtschaft aber wieder erholt, erstarkte das neoliberale Denken erneut und ist heute wahrscheinlich institutionell sogar noch stärker verankert.
Der Kapitalismus ist also nicht in der Krise?
Für den Großteil der Menschheit war und ist der Kapitalismus schon immer – auch ohne Krise – eine Katastrophe. Jetzt sind Teile der industrialisierten Welt in einer substanziellen Krise, und die Aufregung ist viel größer. Finanzkrisen hat es in den 1980er Jahren in Ländern Afrikas und Lateinamerikas massiv gegeben, wo wahrscheinlich sogar mehr Menschen leben als in den Regionen, die jetzt betroffen sind, und da hat niemand von einer Weltwirtschaftskrise geredet.
Wieso muss der Staat eigentlich Banken retten? Was wäre so schlimm daran, wenn die einfach pleitegehen?
Wenn eine Bank bankrottgeht, wie es ja manchen ergangen ist, ist das gesamtwirtschaftlich nicht so schlimm, die Angestellten der Bank werden arbeitslos, und ein paar beteiligte Leute haben Verluste. Wenn aber alle Banken bankrottgehen, dann ist der Kapitalismus gestorben. Banken verwalten das Geld, und ohne Geld gibt es keinen Kapitalismus. Unternehmen und Staaten brauchen Kredite, das ist etwas ganz Normales im Wirtschaftsprozess. Das war auch die Befürchtung in den USA zu Beginn der Finanzkrise: Wenn die Staaten eine Bank nach der anderen bankrottgehen lassen (die „Lehman Brothers“-Pleite war der Anfang), könnte das einen Domino-Effekt auslösen, alle Leute wollen ihre Spareinlagen abheben, aber dann bricht das gesamte Bankensystem ein, denn so viel Geld hat keine Bank. Banken leben ja davon, dass sie das Geld, das sie bekommen, auch wieder verborgen bzw. andere Geschäfte damit machen.
In Griechenland wird massiv gespart, weil der Staat eigentlich bankrott ist. die Menschen wehren sich gegen den sozialen Kahlschlag. Kann so eine Situation auch in Österreich entstehen?
Wie krisengefährdet ein Land ist, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Die Staatsverschuldung alleine ist nicht ausschlaggebend. Griechenland hat im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zwar einen hohen Schuldenstand, aber nicht den höchsten. Was in Griechenland aber passiert ist: Wie alle Länder nimmt Griechenland Kredite auf zur Refinanzierung. Nun haben die Rating-Agenturen die Bonität herabgestuft, mit der Folge, dass Griechenland wesentlich mehr Zinsen für neue Kredite zahlen muss, sodass es sich die Kredite nicht mehr leisten kann. Bei der Herabstufung spielen viele Wirtschaftsindikatoren eine Rolle: das Budgetdefizit, aber auch das Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, Leistungsbilanzdefizit u.Ä. Und bei allen diesen Indikatoren ist Österreich relativ gut aufgestellt. Was übrigens auch heißt, dass Österreich wie auch Deutschland von der Griechenland-Krise über die Handelsverflechtungen durchaus auch profitiert hat, wie auch einige Banken und andere Gläubiger und Gläubigerinnen, weil sie nun sehr hohe Zinsen bekommen. Ob es auch in Österreich zu einer massiven Krise kommen kann, hängt davon ab, wie es sich insgesamt weiterentwickeln wird. Das ist schwer vorauszusagen, aber durchaus möglich.
Die Gehälter von ManagerInnen steigen, die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Gleichzeitig wird der Bevölkerung erklärt, dass nun alle sparen müssen, Sozialleistungen werden gekürzt, Strom und Gas werden immer teurer, „Leistung“ wird eingefordert. Ist es nicht längst Zeit für einen Generalstreik?
Die Streikkultur in Österreich schaut – etwa im Vergleich zu Griechenland – ganz anders aus: „Wir“ sind viel braver, die Gewerkschaften sind braver und eingebunden in den Staatsverwaltungs-Apparat. Umgekehrt gibt es die Kultur des Jammerns, aber am Biertisch, und von dem rührt man sich dann nicht weg. Andererseits haben Protestbewegungen oft auch eine Dynamik, die nicht vorhersehbar ist. Das hat sich zuletzt bei den Studierendenprotesten gezeigt – das waren massive Proteste, mit denen niemand vorab gerechnet hat. Insofern kann ich mir gut vorstellen, dass es auch in Österreich zu größeren Protesten kommt. Und es ist klar, dass es die braucht, damit das System sich grundlegend ändert. Das hat sich ja zuletzt in vielen Ländern gezeigt. Weltweit betrachtet sind die Proteste mittlerweile größer als 1968.
Investieren oder sparen: die einen sagen, Staat und Gesellschaft müssen sparen, damit die Schulden weniger werden. die anderen sind überzeugt davon, dass eine Wirtschaftskrise nur durch Investitionen zu überwinden ist, denn nur so wird die Wirtschaft angekurbelt, Arbeitsplätze geschaffen, Konsum gesteigert etc. Wer hat recht?
Prinzipiell sind sich alle einig, dass investiert werden soll, die Streitfrage ist nur: Wer soll investieren? Soll der Staat investieren oder private Unternehmen? Eine kapitalistische Wirtschaft funktioniert nur über Investitionen, doch die Neoliberalen schränken ein: Der Staat soll es nicht tun, weil der macht lauter Fehler.
Welche spezifischen Auswirkungen hat die Krise auf Frauen?
Grundsätzlich und auch bei den Auswirkungen der Krise wird im Normalfall immer nur der monetäre Bereich betrachtet: Staatsverschulden, Unternehmensgewinne, manchmal auch die Einkommen. Da ist man aber schon progressiv, wenn auch die sinkenden Einkommen mitbedacht werden. Aber es wird nie geschaut, was mit der unbezahlten Arbeit passiert, oder was passiert, wenn in einem Haushalt die Einkommen sinken – beispielsweise wegen der staatlich subventionierten Kurzarbeit oder der steigenden Arbeitslosigkeit. Dadurch wird die materielle Basis des Haushaltes geschwächt, was u.a. dadurch ausgeglichen werden kann, dass mehr selber gekocht wird, mehr selber repariert etc. – das wird zu 80 Prozent von den Frauen geleistet. Genauso der Pflegebereich: Wenn Krankenhaus und Pflegeheim nicht mehr leistbar sind, übernehmen das die Frauen. Noch dazu sind bei Kürzungen im Gesundheitsbereich v.a. Frauenjobs betroffen. Das ist in der Diskussion um die Krise völlig unsichtbar. Denn unbezahlte Arbeit ist in den Wirtschaftswissenschaften kein Faktor, es fließt ja kein Geld, deshalb taucht es in den Bilanzen nicht auf. Eine ganz andere Frage ist noch, inwiefern es zu einem Anstieg von physischer oder psychischer Gewalt gegen Frauen kommt. Das wird auch kaum diskutiert. Jedenfalls wird in Arbeitsstunden gemessen in Österreich mehr unbezahlt gearbeitet als bezahlt. Würden wir die unbezahlte Arbeit niederlegen, würde die Wirtschaft innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen, d.h. ein existenzsicherndes Einkommen für alle Menschen ohne Voraussetzungen und in jeder Lebenslage: Ist das eine Lösung gegen die Armutsspirale?
Auf jeden Fall. Es steht und fällt jedoch mit der Höhe des Grundeinkommens, es muss tatsächlich mindestens existenzsichernd sein. Gefordert wird eine Höhe, die ein gutes Leben ermöglicht. Das hat zwei große Vorteile: Erstens, dass die ganze unbezahlte Arbeit zumindest symbolisch anerkannt wird. Zweitens befreit es die Menschen vom Zwang der Lohnarbeit, d.h. ich muss den Niedriglohn-Job nicht annehmen. Und wenn den dann keiner mehr macht, wird sich das Lohnniveau automatisch steigern. Das macht das Grundeinkommen so attraktiv: Es fangen mehrere Räder aus unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen zugleich an, sich zu drehen. In Kanada wurde das Grundeinkommen in den 1980ern in einer Region mal probeweise eingeführt, und sofort ging die Scheidungsrate nach oben, weil plötzlich die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen höher war.
Käthe Knittler ist feministische Ökonomin. Lebt und arbeitet in Wien. Hat Volkswirtschaft studiert und hält Lehrveranstaltungen zu feministischer Ökonomie. www.forschungswerkstatt.org