Frauen haben unter den Taliban auf einen Schlag erneut all ihre ökonomischen, sozialen und politischen Rechte verloren, berichtet Medienaktivistin Mobina Saei aus Afghanistan. Lea Susemichel hat mit ihr über das Terrorregime und die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft gesprochen.
Auch wenn die radikalislamischen Taliban nach ihrer erneuten Machtübernahme im August zunächst beteuert hatten, die Rechte von Frauen diesmal achten zu wollen, besteht wenig Anlass zur Hoffnung, dass man ihnen glauben darf. Ihrem Kabinett gehört kein weibliches Mitglied an, in den wenigen Wochen seit der Machtergreifung wurden Geschlechtersegregation und Berufsverbote für Frauen durchgesetzt. Zuletzt wurde nun auch das Frauenministerium durch ein sogenanntes „Tugendministerium“ ersetzt, das der „Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters“ dienen soll. Eine Behörde dieses Namens war während des ersten Talibanregimes zwischen 1996 und 2001 für die Bestrafung von Frauen zuständig, die öffentlich ausgepeitscht, in einzelnen Fällen auch hingerichtet wurden.
Während der Talibanherrschaft zwischen 1996 und 2001 wurden Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannt, sie durften nur vollverschleiert und in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds das Haus verlassen. Es war ihnen verboten, einen Beruf auszuüben, Mädchen durften keine Schule besuchen, es gab lediglich illegale Untergrundschulen, in denen unter höchstem Risiko für Lehrende und Schülerinnen bezahlter Privatunterricht gegeben wurde.
an.schläge: Es gibt Meldungen, wonach die Internet- und Telefonverbindungen von kritischen Journalist:innen gekappt worden seien, es gibt auch immer wieder Angriffe auf Medienleute, viele von ihnen haben das Land verlassen, auch viele NGOs. Wie erleben Sie die gegenwärtige Situation? Was konkret hat sich im letzten Monat alles geändert, vor allem für Frauen?
Mobina Saei: Ich bin in Afghanistan geboren, ich habe mein ganzes Leben hier gelebt und habe auch schon die letzte Talibanherrschaft vor 2001 miterlebt. In nur einem Monat haben die Taliban erreicht, dass es im Land fast keine einzige weibliche Journalistin mehr gibt – mit verheerenden Folgen. 150 Medien, darunter auch Radio- und Fernsehsender, mussten ihre Arbeit bereits einstellen. In diesem einen Monat, seit die Taliban die Macht im ganzen Land zurückerobert haben, haben Mädchen und Frauen sämtliche Freiheiten und alle ihre Rechte verloren. Darunter auch das Recht zu arbeiten: Weder im privaten noch im öffentlichen Sektor soll es Frauen weiterhin erlaubt sein, einem Beruf nachzugehen. Frauen werden davon abgehalten, zu ihrer Arbeitsstelle zu gehen, Frauen und Mädchen sollen zu Hause bleiben. Auch im Bildungsbereich gab es sofort Einschränkungen, Frauen müssen an der Universität ihr Gesicht verhüllen, sie müssen im Niqab und getrennt von den Männern studieren. Wir Frauen haben auf einen Schlag all unsere ökonomischen, sozialen und politischen Rechte verloren. Deshalb gehen Frauen auf die Straße, um zu demonstrieren. Doch auch dieses Recht wird ihnen von den Taliban verwehrt.
Hier sehen wir Bilder von Polizeigewalt bei Frauendemos, es soll sogar geschossen worden und mehrere Frauen sollen schwer verletzt worden sein. Es gibt auch Berichte, wonach Frauen, die sich widersetzen und weiterhin zu ihrer Arbeit gehen wollen, auf der Straße von den Taliban geschlagen werden. Können Sie das bestätigen?
Ja. Aufgrund meiner Tätigkeit als Medienaktivistin gehöre auch ich zu den Frauen, die unter Beobachtung der Taliban und anderer Terroristen stehen. Ich kann bestätigen, dass Frauen, die auf Demonstrationen ihre Stimmen gegen die Taliban erheben, geprügelt und verletzt wurden. Ich habe außerdem Informationen darüber, dass einige Frauen nach Demonstrationen inhaftiert wurden. Es wurde massiver Druck ausgeübt. Es sind in der Folge auch männliche Angehörige festgenommen und bedroht worden, sollten sie es nicht unterbinden, dass ihre Frauen und Töchter weiter Widerstand leisten.
Die Taliban sind mit einer anderen Gesellschaft konfrontiert als vor zwanzig Jahren, es gibt eine erstarkte Zivilgesellschaft, vor allem die Frauen haben inzwischen einiges zu verlieren. Gibt es eine starke feministische bzw. zivilgesellschaftliche Bewegung in Afghanistan, auch außerhalb der Metropolen?
Ja, die Zivilgesellschaft ist definitiv stärker geworden in den letzten zwanzig Jahren, Frauen haben in diesem Zeitraum wichtige Errungenschaften erkämpft. Dass es nun Proteste in vielen Provinzen gibt, zeugt von dieser Stärke der Bewegung.
Unter Hashtags wie #FreeAfganistan, #AfghanistanCutlure und #DoNotTouchMyClothes protestieren afghanische Frauen weltweit gegen das Regime und insbesondere auch gegen die neuen Verhüllungsvorschriften. Welche Hoffnungen setzen Sie in diese Form von Onlineprotest? Sind Sie optimistisch, dass er etwas bewirken kann?
Ich bin froh und dankbar für diesen Protest! Dafür, dass diese Frauen und Mädchen ihr Recht auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation verteidigen, ganz gleich, ob es die Kleiderordnung betrifft oder andere Grundrechte. Sie repräsentieren die Stimmen von afghanischen Frauen rund um die Welt und tragen dazu bei, Aufmerksamkeit auf die aktuelle Situation in Afghanistan zu richten.
Ich bin optimistisch, dass diese Proteste in verschiedenen Teilen der Welt dazu beitragen können, langfristig auch die Situation von afghanischen Frauen hier im Land zu verbessern. Jede einzelne Stimme, die ein Mädchen oder eine Frau anderswo auf der Welt erhebt, bedeutet, dass sie ihre Regierung dort dazu zwingt, vor der Situation von afghanischen Frauen nicht die Augen zu verschließen.
Welche Unterstützung erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft? Die EU will ja in einen Dialog mit den Taliban treten. Soll man mit den Taliban verhandeln?
Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es ist die Wahrheit: Die Welt hat Afghanistan im Stich gelassen und in dieser Lage völlig auf sich alleine gestellt zurückgelassen. Die internationale Gemeinschaft ist mitverantwortlich dafür, dass Frauen und Mädchen, ja alle Menschen in Afghanistan, ihre Rechte auf einen Schlag verloren haben. Sie hat sich schuldig gemacht. Sie muss jetzt ihren Einfluss geltend machen und Druck ausüben. Denn die Taliban können sich nicht an der Macht halten, wenn sie keine diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten aufbauen.
Wie soll dieser Druck konkret aussehen? Auf einer internationalen Afghanistan-Konferenz wurden aufgrund der zu erwartenden Hungersnot Hilfsgelder von rund einer Milliarde Euro beschlossen. Sollte diese humanitäre Hilfe an Bedingungen geknüpft werden?
Angesichts der gegenwärtigen Krise und der Hungersnot, von der viele Menschen und vor allem Kinder bedroht sind, darf die humanitäre Hilfe nicht zurückgehalten werden. Sie an Bedingungen zu knüpfen, würde vor allem die Bevölkerung treffen – nicht die Taliban. Stattdessen sollte der diplomatische Druck erhöht und unmissverständlich klargemacht werden, dass die neue Regierung nur anerkannt wird, wenn sie sich an klare Vereinbarungen hält und Bedingungen akzeptiert.
Soll die Einhaltung von Frauenrechten zu diesen Bedingungen gehören?
Ja, unbedingt. Es muss eine zentrale Bedingung sein, dass Frauenrechte in Afghanistan eingehalten werden! Und damit meine ich tatsächlich alle Rechte und Aspekte des Lebens von Mädchen und Frauen: das Recht darauf, am sozialen Leben teilzunehmen, ökonomische und politische Rechte, das Recht auf Bildung und Berufsausübung. •
Mobina Saei ist Vorsitzende der Organisation Nai (Supporting Open Media in Afghanistan).