Die israelische „Tentifada“ hat die Gesellschaft schon jetzt verändert, nicht zuletzt aufgrund der zentralen Rolle, die Frauen in der Protestbewegung einnehmen. Von SYLVIA KÖCHL
„Darauf habe ich mein Leben lang gewartet.“ Hannah Safran, 61-jährige Veteranin der israelischen Frauenbewegung und feministische Wissenschaftlerin aus Haifa, erzählte bei ihrem Wienbesuch am 8. September mit glänzenden Augen von der gegenwärtigen Protestbewegung, die ihresgleichen in der israelischen Geschichte sucht. Am 12. Juli hatte sich die 25-jährige Videocutterin Daphne Leef entschieden, im Zentrum von Tel Aviv ein Zelt aufzustellen, weil sie sich ihre Wohnungsmiete nicht mehr leisten konnte. Mit ein paar FreundInnen startete sie via Facebook einen Protest- Aufruf, dem immer mehr Menschen mit eigenen Zelten folgten – am 3. September waren dann sogar 450.000 auf den Straßen, die ihre vielen verschiedenen Forderungen formulierten und ihrem Ärger über die Sozial- und Bildungspolitik freien Lauf ließen.
Neue Beziehungen. Das Themenspektrum der Bewegung, die sich zunächst auf die unmittelbarsten Probleme wie Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und das erodierte Sozialsystem bezog, wird praktisch täglich erweitert. Und die Form, wie marginalisierte Gruppen, vor allem Frauen und arabische Israelis, inzwischen eingebunden sind, verändere die Gesellschaft schon jetzt: „Es war davor schlicht undenkbar“, so Hannah Safran, „dass ein Araber oder eine Palästinenserin auf einer israelischen Demo spricht oder sich Israelis positiv auf ein arabisches Land beziehen, wie etwa mit den Plakaten, auf denen ,Das ist unser Tahrir-Platz‘1 steht. Genauso begeistert bin ich von den jungen Frauen, die als Sprecherinnen auftreten und dabei feministisch argumentieren, obwohl sie sich selbst nicht als Feministinnen bezeichnen.“ Auch anderen, wie dem Schriftsteller Assaf Gavron, fällt das auf: „Bemerkenswert ist die zentrale Rolle der Frauen – und das in unserer machogeprägten, militaristischen Gesellschaft. Bislang sprechen auf den Demonstrationen vor allem Frauen“, schreibt er in einem Kommentar für die „Süddeutsche Zeitung“.
Die Protestkultur ist insgesamt sehr ungewöhnlich. „Die Leute gehen einfach auf die Straße, stehen in Gruppen zusammen und diskutieren“, schildert Safran. „Dabei lassen sie sich gegenseitig ausreden – eine durch und durch un-israelische Angewohnheit.“ Für größere Versammlungen wurde eine Zeichensprache von anderen Bewegungen, z.B. in Spanien, übernommen, dadurch lassen sich Zustimmung, Ablehnung und Kritik am Gesagten auf eine Weise äußern, die kaum Streit und keine Wortgefechte zulässt.
Neue Sichtbarkeiten. Die Frauenbewegung in Israel sei eher schwach, sehr zersplittert und habe nur wenige gemeinsame Themen, so Hannah Safran, und auch die bekannte Friedensbewegung „Peace Now“ habe sich immer sehr resistent gegen feministische Einflüsse gezeigt. Der alles beherrschende und vorwiegend von Männern geführte Sicherheitsdiskurs führe zur Unsichtbarkeit von Frauen in der Öffentlichkeit. Daphne Leef selbst, erzählt Safran, musste sich dafür rechtfertigen, warum sie ihren Militärdienst nicht abgeleistet hatte, und war sehr wütend, dass sie öffentlich erklären musste, sie leide an Epilepsie und habe stattdessen einen Sozialdienst absolviert.
Im Jahr 2000, als die zweite Intifada ausbrach, verschwand jegliche Hoffnung auf Veränderung. Die Menschen seien völlig desillusioniert gewesen, erschüttert davon, dass ein solcher Rückschritt im Friedensprozess überhaupt möglich war, beschreibt Hannah Safran die Ausgangslage. In den letzten Jahren habe die Regierung Netanyahu zudem „den Staat komplett ausverkauft“.
Sie sei sich aber sicher, dass es der Protestbewegung um weit mehr als nur Wohnungsprobleme geht, eben durchaus auch um eine neue politische Kultur
im Land. Der große Protest-Slogan, der sich von „Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit“ in „Soziale Gerechtigkeit für alle“ gewandelt hat, zeige, so Safran, dass jene 20 Prozent arabischer Israelis, die von den sozialen Problemen besonders stark betroffen sind, ganz selbstverständlich dazugehören. Eine Einschätzung, die von zahlreichen anderen KommentatorInnen geteilt wird, etwa von der Journalistin Dahlia Scheindlin: „In der Vergangenheit waren es Kriege und Sicherheitsfragen, die die Gesellschaft zusammengebracht haben, aber hier entsteht ein neues, kraftvolles Band, das diese polarisierte Gesellschaft zusammenführen kann.“ Das Mindeste, das sich viele erwarten, ist ein ziviles Leben, das es überhaupt wert ist, militärisch verteidigt zu werden. Wie geht es weiter? In der Nacht auf den 7. September wurde ein Teil der Zeltstadt am Rothschild-Boulevard in Tel Aviv – „Da kannst du 20 Minuten lang an den Zelten entlanggehen“, so Hannah Safran – polizeilich geräumt. Doch egal, was passiert, hinter diese kollektive Erfahrung könne niemand mehr zurück.