Trans Kinder brauchen Eltern und ein gesellschaftliches Umfeld, das sie unterstützt und anerkennt. Aber sicher keine Panikmache vor „Vertransung“. Von Ravna Marin Siever
Trans Personen mussten lange darum kämpfen, nicht mehr psychopathologisiert zu werden. Kaum zwei Jahre ist es her, dass die WHO endlich anerkannt hat, dass es sich bei Transidentität nicht um eine psychische Störung handelt. Doch während auf der einen Seite Akzeptanz und Repräsentation zunehmen, ist auf der anderen Seite weiterhin von einer vermeintlichen „Geschlechterideologie“ die Rede, die den Kindern „ihr natürliches Geschlecht aberziehen“ würde. Der Lebensrealität von trans Kindern entspricht das nicht.
Liebevolle Begleitung. Ricarda z. B. war sieben, als ich sie kennenlernte. Damals war sie noch nicht out. Als sie sich mit neun Jahren vor ihren Mamas outete, erfuhr sie sogleich die Unterstützung, die jedes trans Kind bekommen sollte: Ihr neuer Name und die von ihr gewünschte Anrede wurden sofort genutzt. Ihre Mamas fragten nach, welche Form von Begleitung sie sich wünsche. Jeder Transitionsschritt richtete sich nach Ricardas Wünschen und ihrem Tempo, so z. B. die Veränderungen des Aussehens oder der Outingprozess im Umfeld. Inzwischen ist sie zwölf Jahre alt und nimmt Pubertätsblocker, um die in ihrem Körper veranlagte testosterongeprägte Pubertät noch nicht zu beginnen. Wenn sie so weit ist, möchte sie eine Ersatztherapie mit den passenden Hormonen beginnen. In ihrer Schule und ihrem Umfeld ist sie allen als Mädchen, als Ricarda, bekannt.
Es könnte so einfach sein … Die meisten trans Kinder, die offen als solche leben können, sind glückliche Kinder. Sie haben unterstützende Bezugspersonen wie Ricarda. Doch bei vielen fehlt das geborgene Zuhause. Sie leben unsichtbar, haben oft keine Sprache für sich selbst. Woher sollten sie auch?
Dabei könnte es so einfach sein: Bis Kinder ein Bewusstsein für ihr eigenes Geschlecht entwickeln, dauert es etwa zwei Jahre, oft länger. Wir könnten ihnen bis dahin einfach alles offenhalten, sie mit Menschen aller Geschlechter zusammenbringen, ihnen Rollenvorbilder für Menschen aller Art zeigen und ihnen ermöglichen, ihr eigenes Geschlecht zu entdecken und zum Ausdruck zu bringen. Aber leider werden Kinder in die falsche Gesellschaft geboren.
Genitalbeschau. Spätestens, wenn Kinder zur Welt kommen, sehen sich Erwachsene ihre Genitalien an und stecken die Neugeborenen in eine von drei Kategorien: „Mädchen“, „Junge“ oder „inter“. Kinder mit uneindeutigen Genitalien werden allerdings meist nicht einfach als „inter“ akzeptiert, sondern mit Zwangsoperationen und Hormontherapien in eine der beiden anderen Kategorien gezwungen. Betroffene machen sich gegen diese Praxis stark und haben erste Erfolge erzielt – doch es bleibt viel
zu tun.
Der Genitalbeschau folgt also ein Sprechakt – dem Kind wird ein Geschlecht zugewiesen. Was danach passiert, ist ein Hineinpressen in mal mehr, mal weniger enge Schablonen. Zwar folgen glücklicherweise immer weniger Menschen, die mit Kindern leben oder arbeiten, heute noch den alten Erziehungsmethoden à la „Du bist ein Junge/Mädchen, deshalb musst du Folgendes sein und tun“. Dennoch haben die Bilder, die über Geschlecht in unzähligen Kindermedien fortexistieren und die in Erwachsenenköpfen (re-)produziert werden, nach wie vor immensen Einfluss auf unsere Kinder. Denn diese Bilder sind zutiefst misogyn und sexistisch. Immergleiche stark-sein-müssende Superhelden, die weibliche Charaktere aus misslichen Lagen befreien, Mädchen, deren Interessen sich auf Hübschsein und Pferde beschränken, und allerlei andere Geschlechterstereotype tummeln sich weiterhin in Kinderbüchern, -serien und -videospielen.
Kinder, die trans oder nicht-binär sind, deren Geschlecht also nicht oder nicht vollständig mit dem übereinstimmt, was ihnen bei der Geburt per Genitalorakel prophezeit wurde, haben aber auch sonst keine guten Startbedingungen in unserer Gesellschaft.
Immer mehr Kinder sprechen selbst … Erfreulicherweise gibt es zunehmend mehr Kinder, die für sich selbst formulieren, dass sie trans oder nicht-binär sind. Doch die steigende Zahl geouteter trans Kinder wird von transfeindlichen Menschen gerne instrumentalisiert, um die Angst vor einer „Vertransung“ von Kindern zu schüren. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass plötzlich mehr Kinder trans und/oder nicht-binär sind. Viel naheliegender ist, dass durch die allmählich steigende Repräsentation mehr Kinder die Möglichkeit haben, ihre eigene Identität zu erfassen und auszudrücken. Je nachdem, welche Kriterien angelegt werden und wie die Daten erhoben werden, bewegt sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die trans sind, zwischen zwei und zehn Prozent aller Kinder.
Eltern und andere Menschen, die mit Kindern leben und arbeiten, machen sich oft Sorgen, dass Kinder sich in etwas „verrennen“. Wenn ein Kind, das bei der Geburt zu einem Jungen erklärt wurde, sagt, es sei ein Junge, so wird das nicht hinterfragt. Wenn das gleiche Kind sagt, es sei kein Junge, so wird ihm jedoch oft nicht geglaubt: Das Ganze wird als Spiel abgetan oder als Phase. Dass wir einem Kind im ersten Fall Glauben schenken, im anderen aber höchstens dann, wenn es diese Aussage beständig und über einen langen Zeitraum wiederholt, beruht auf einem tief verankerten transfeindlichen gesellschaftlichen Denkmuster.
Geschlecht ist Teil eines Wissens über sich selbst, ein Zugehörigkeitsgefühl – oder ein Unzuhörigkeitsgefühl – zu Rollen, Funktionen und der Art und Weise des Wahrgenommenwerdens in unserem sozialen Gefüge. Ein Kind, das im Missklang mit den Erwartungen des Umfelds an sich lebt, leidet. Dabei muss Geschlecht gar keine Konstante sein, keine unveränderliche Wahrheit über einen Menschen. Geschlecht ist fluide und kann in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich ausgeprägt sein. Das ist allerdings für viele Menschen weiterhin schwer zu verstehen und zu akzeptieren.
… und geben das Tempo vor! Outet sich ein Kind als trans, passiert – entgegen den Horrorszenarien, die einige zeichnen – nichts von jetzt auf gleich. Insbesondere Operationen und Hormongaben sind nicht einfach so verfügbar. Ganz im Gegenteil: Die Hürden für diese Maßnahmen sind oft so hoch, dass sie immenses, vermeidbares Leiden verursachen können. Statt kompetenter, informierter und zugewandter medizinischer und wenn gewünscht psychotherapeutischer Begleitung erfahren trans Personen, insbesondere trans Kinder, immer wieder Zurückweisung und Gatekeeping. Selbstbestimmung wird ihnen häufig abgesprochen, und andere, oft unqualifizierte, voreingenommene und mit dem Kind nicht vertraute Personen dürfen viel zu viel mitbestimmen, welche Optionen dem Kind zur Verfügung stehen. Hormonblocker und Hormone führen zudem nur sehr allmählich zu Veränderungen – werden sie abgesetzt, verschwinden die meisten Veränderungen nach und nach wieder. Operiert wird kein im Wachstum befindliches Kind mal eben „auf die Schnelle“. Auch andere Schritte, die trans Kinder vielleicht setzen wollen, wie Frisur, Kleidung, Namen, Pronomen zu ändern usw., werden meist sehr viel bedachter getan, als Menschen, die nur am Rande des Geschehens sind, unterstellen.
Glück gehabt? Trans Kinder müssen das Glück haben, in ein Umfeld geboren zu werden, das sie unterstützt. Sie müssen das Glück haben, Erwachsene an ihrer Seite zu haben, die für sie gegen ein transfeindliches System und eine diskriminierende Gesellschaft ankämpfen. Haben sie dieses Glück nicht, so werden sie häufig krank. Depressionen und Angststörungen sind nur einige der möglichen Folgen fehlender Unterstützung. Deshalb: protect trans kids – schützt trans Kinder.
Ich habe Ricarda gefragt, was sie den Menschen, die diesen Artikel lesen, über trans Kinder gern mit auf den Weg geben würde. Ihre Antwort: „Wenn man einem Kind das Leben erleichtern kann, indem man es einfach akzeptiert und unterstützt, dann soll man das tun.“ •
Ravna Marin Siever (@zesyra) spricht und schreibt über geschlechtsoffene Erziehung, geschlechtliche Vielfalt, Aufklärung und trans Elternschaft. Sien erstes Buch „Was wird es denn? Ein Kind! – Wie geschlechtsoffene Erziehung gelingt“ erscheint im März 2022 im Beltz Verlag.
1 Kommentar zu „In die falsche Gesellschaft geboren“
@Trans Kinder müssen das Glück haben, in ein Umfeld geboren zu werden, das sie unterstützt.
Es ist schön wenn das Verständnis immer grösser wird.
Aus meiner Erfahrung, und das bereits vor vierzig Jahren, war in Thailand das Verständnis der Zeit um einiges voraus.
Nun erlebe ich dasselbe hier und das ist auch gut so.
Roger