Sie leben in Wien und warten auf ihren Asylbescheid. GABI HORAK hat in einer Notunterkunft zwei Frauen aus Syrien und Somalia getroffen. Das Notquartier wird Ende Juni geschlossen – für die entstandenen Netzwerke und ersten Schritte zur Integration ein großer Rückschritt.
Das Meer reichte ihr bis zur Brust, bevor sie in das Boot einsteigen konnte. Sie hatte große Angst vorm Wasser, doch es gab nur den Meerweg nach Europa. Es war mitten in der Nacht und der Schlepper hatte ihr gesagt, die Überfahrt würde eine Stunde dauern. Und im Boot hätten dreißig Personen Platz. Tatsächlich waren es 33 Erwachsene und 16 Kinder, die sich im Stockdunklen eng aneinandergedrängt von der türkischen Küste aus auf den Weg machten. Nach eineinhalb Stunden Fahrt konnten sie noch immer nicht das Ufer sehen. „Ich dachte mir die ganze Zeit, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, es war für alle gleich schlimm, deshalb versuchte ich tapfer zu sein.“ Die Menschen auf dem Boot suchten mit ihren Handys GPS-Koordinaten und fanden heraus, dass es bis zur Insel Samos noch weitere eineinhalb Stunden dauern würde. „Es war fürchterlich, die Wellen waren sehr hoch und das Wasser kam ins Boot. Insgesamt waren wir dreieinhalb Stunden mitten in der Nacht auf dem Meer. Ich hab gebetet, dass wir sofort ertrinken würden. Ich wollte nicht zu lange im Wasser leiden.“
Istir lächelt herzlich bei der Begrüßung. Sie ist Überlebende. Zuerst ist sie dem Bombenhagel in Syrien entkommen, hat das stürmische Meer und dann den langen Weg nach Österreich überstanden. Nun lebt sie seit einem halben Jahr in einem Notquartier in Wien und strahlt so viel Lebensfreude aus, dass es ansteckend ist. „Es war ein schönes Leben in Syrien“, sagt sie. „Bis die Bomben fielen.“ Wie viele andere auch, musste sie ihre Heimat verlassen und ging zunächst in die Türkei. Dort blieb sie eineinhalb Jahre. „Es war gut, bis ich von einem Mann ausgeraubt wurde. Ab diesem Zeitpunkt fühlte ich mich dort nicht mehr sicher. Auch weil die Türken immer öfter gegen uns SyrerInnen protestierten.“
Sie ging zurück nach Syrien, weil ihre Mutter krank geworden war. „Die Atmosphäre hatte sich völlig verändert. Ich war nur eineinhalb Jahre weg, aber es war, als wären es zwanzig Jahre gewesen. Ich hab mein Land nicht mehr wiedererkannt.“

Von Syrien ins Stadion. Seit 2011 tobt in Syrien der Krieg. Das Syrische Zentrum für politische Forschung spricht von 470.000 Menschen, die seither getötet wurden. Rund zwölf Millionen SyrerInnen sind auf der Flucht. Istir machte sich mit ihrem Bruder, dessen Frau und dem neunjährigen Sohn wieder auf den Weg in die Türkei. Der Schlepper teilte sie in zwei Gruppen auf. Ihr Neffe war mit ihr in einer Gruppe, seine Eltern kamen in eine andere Gruppe. Sie haben sie nicht wiedergesehen. „Ich war nun nicht mehr wie bisher in meinem Leben nur für mich verantwortlich, sondern plötzlich auch für einen neunjährigen Buben.“ Nach der lebensgefährlichen Bootsfahrt erreichten sie den Strand in Samos um halb neun Uhr morgens. Sie waren erschöpft. „Die Kinder weinten die ganze Zeit. Die Erwachsenen konnten ihre Füße nicht mehr spüren.“ Es folgte eine lange Reise zu Fuß und mit Zügen bis Mitteleuropa.
Am 25. Oktober kam sie am Wiener Westbahnhof an. Sie wurde ins Ferry-Dusika-Stadion gebracht. „Wir hatten ein Bild von Europa, dass hier Träume wahr würden und es wundervoll sei. Als sie mich ins Ferry-Dusika brachten, war ich am Boden zerstört. Ich wünschte mir Flügel, um zurück nach Syrien zu fliegen.“
Das Ferry-Dusika-Stadion in Wien ist die größte Leichtathletik- und Radhalle Österreichs. Im Herbst 2015 wurde sie zur Notschlafstelle für etwa tausend Flüchtlinge. Die Bedingungen dort waren alles andere als ideal für Menschen mit traumatischen Erfahrungen. Istir hatte für sich und ihren Neffen wenige Quadratmeter Platz – und sie versuchte das Beste daraus zu machen. Sie zog aus Tüchern und Kleidern „Wände“ auf. Jeden Tag kam eine andere Wand dran, am Ende das Dach. „Ich machte mir mit dem Zelt ein kleines Zuhause.“ Erst nach zwanzig Tagen im Stadion traute sie sich, einen Spaziergang zu machen. „Ich hatte Angst vor dem da draußen, ich kannte nichts davon.“ Dann lächelt sie. „Jetzt könntest du mich irgendwo in Wien aussetzen, ich hätte keine Angst, verloren zu gehen.“ Am zweiten Tag traf sie eine junge Frau aus Somalia. Zu dem Zeitpunkt hoffte sie noch, bald hier rauszukommen. „Ich hab sie gefragt, wie lange sie denn schon hier ist: drei Monate. Da wusste ich, dass auch wir für eine lange Zeit dort sein würden.“ Es wurden 45 Tage.

Notunterkunft. Hilla (Name wurde auf Wunsch geändert), die junge Frau aus Somalia, sitzt auch jetzt neben Istir, die beiden lächeln sich immer wieder an. Gemeinsam wurden sie aus dem Anfang Dezember geräumten Ferry-Dusika-Stadion zur neu errichteten Notunterkunft in die Schopenhauerstraße gebracht, die von den Johannitern betrieben wird. Salwa Chamsi-Pasha übersetzt mein Gespräch mit den Frauen vom Arabischen ins Englische. Sie ist gebürtige Britin mit syrischen Wurzeln. Seit September 2015 ist sie in Österreich, um als Freiwillige zu helfen. Sie hat die Frauen vom Ferry-Dusika bis hierher begleitet. Die Notunterkunft besteht seit einem halben Jahr. Das Haus gehört der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), die es für sechs Monate für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt hat. Ende Juni ist Schluss, die BIG hat Eigenbedarf angemeldet und für die BewohnerInnen wird fieberhaft nach neuen Unterkünften gesucht.
Zwei Sozialarbeiterinnen stehen für derzeit 120 AsylwerberInnen zur Verfügung. Birgit Wolf leitet die Sozialarbeit. „Der Betreuungsschlüssel ist prekär. Es ist lange nicht so viel möglich, wie notwendig wäre, besonders hinsichtlich der psychosozialen Betreuung“, sagt sie. Als die Flüchtlinge zu Hunderten im Sommer 2015 nach Österreich kamen, wollte sie helfen. Am Westbahnhof gab es genug Unterstützung. „Dann hab ich über Facebook die Hilferufe von Freiwilligen aus Röske mitbekommen.“ Die nächsten Wochen verbrachte sie in Ungarn, Kroatien, Slowenien und Griechenland.
Die Versorgung der Schutzsuchenden werde auch in Österreich nach wie vor großteils von Freiwilligen gemacht, sagt Wolf. Die BewohnerInnen der Notunterkunft bekommen viele Sachspenden und Freiwillige bieten Deutschunterricht, Musik und Freizeitangebote für die Kinder an. Es gibt viel Unterstützung seitens der Bevölkerung, der unmittelbaren Nachbarn. „Bei jedem einzelnen Menschen, für den wir hier was tun können, sieht man den Fortschritt, eine kleine Verbesserung ihrer Lebensumstände“, sagt sie. Aber mit der bevorstehenden Schließung des Hauses und der Übersiedelung in andere Bezirke gehen diese Netzwerke wieder verloren. „Das ist für Integration ganz schlecht.“
Mitten in Europa. Birgit Wolf erzählt von ihren Erfahrungen als Freiwillige. Der erste Weg führte sie nach Röske in Ungarn, kurz bevor der Grenzübergang zu Serbien gesperrt wurde. „Das war so eine intensive Erfahrung, es ist schwer, das in Worte zu fassen. Wenn man es nicht gesehen hat, kann man sich nicht vorstellen, dass so etwas in Europa passieren kann.“ Flüchtende Menschen kamen zu Tausenden, um in die EU zu gelangen. Sie gingen die Gleise entlang, die meisten in der Nacht. „Es roch nach Scheiße und Müll. Es war klar, dass die Grenze die nächste Woche zugemacht wird, und es war der letzte Grenzübergang in dieser Region, der noch offen war.“ Es gab für fünf- bis zehntausend Menschen etwa zwanzig Dixi-Toiletten, die nicht gereinigt wurden.
In der Nacht musste man sich um Frauen und Kindern kümmern, die aus Schwäche einfach irgendwo auf dem Boden sitzen geblieben waren. Als klar wurde, dass keine Busse mehr abfahren würden, ließen sich die Menschen überreden, sich in kleinen, rasch aufgebauten Zelten zu erholen. Die wenigen größeren Zelte waren schnell überfüllt. „In der letzten Nacht hab ich eine Familie auf den Gleisen gefunden, die hatten fünf Kleinkinder mit, eines davon ein Säugling – völlig ungeschützt. Da hab ich andere Freiwillige gebraucht, weil die nicht mehr gehen konnten. Wir haben versucht, sie in ein Zelt zu tragen und sie zu versorgen. In der Früh hab ich die Familie dann wiedergesehen, sie waren erholt, die Kinder haben gelacht. Im Sonnenschein sind sie weiter und haben sich beim Bus angestellt. Das sind gute Momente.“
Am Strand von Samos. Ihr nächstes Ziel war ein Camp in Kroatien an der serbischen Grenze, nachdem Ungarn dicht gemacht hatte. „Es war im Vergleich zu Ungarn positiver, weil die Polizei sehr entgegenkommend war und uns auch unterstützt hat. Sie haben uns Zugang zu den Waggons gegeben, wenn die lange dort standen, um noch Verpflegung reinzubringen.“ Insgesamt sei Kroatien bemühter gewesen, Hilfsstrukturen zu schaffen. Es gab fließendes Wasser und Toiletten. Nach einer weiteren Station in Slowenien ging Birgit Wolf schließlich nach Griechenland, nachdem von dort massive Hilferufe von den Freiwilligen am Strand von Lesbos kamen. „In Griechenland hatte ich den Eindruck, dass die Freiwilligenarbeit sehr geschätzt wird. Wenn man dort Schutzsuchende mit dem Auto ins nächste Camp gebracht hat, lief man nicht Gefahr, als Menschenhändlerin angezeigt zu werden. In Griechenland war ein Wille zur unterstützenden Zusammenarbeit da, den ich noch nirgends vorher kennengelernt habe.“
Eine Ausnahme sei die Presse, sagt sie. „Es war erschütternd, was ich dort gesehen hab, insbesondere auch Frauen gegenüber. Das widerspricht jeglicher Ethik.“ Wenn die Boote in der Nacht ankamen, dann sei es das Wichtigste gewesen, den durchnässten Menschen trockene Kleidung zu geben und ihnen beim Umziehen zu helfen, damit sie nicht unterkühlen. „Dabei haben manchmal Presseleute den Unterleib von Kindern, Mädchen und Frauen während dem Umziehen fotografiert. Man ist so im Stress, man versucht vielen Menschen schnell zu helfen, Familien beisammen zu halten. Man sieht die Presse nicht immer und es ist keine Zeit da, sie davon abzuhalten. Ich hab das zwei Mal versucht, aber die wurden derart aggressiv und meinten, das sei ihre Arbeit. Aber es ist nicht ihre Arbeit, Menschen nackt zu fotografieren in einer Situation, wo diese absolut wehrlos sind.“

In Freiheit leben. Nicht mehr wehrlos sein und ein selbstbestimmtes Leben für sich und ihre Kinder aufbauen – das wollte Hilla, als sie nach Europa aufbrach. Ihre Eltern in Somalia leben in der Hauptstadt. Sie hat geheiratet und zog mit ihrem Mann weit weg aufs Land. Ihr erstes Kind war ein Sohn, als sie im siebten Monat mit ihrer Tochter schwanger war, starb ihr Ehemann und die Probleme begannen. Ihre Schwiegereltern drangsalierten sie und wollten ihren Enkel „wegbringen“, damit er nicht das Land der Familie erben konnte. Hilla floh mit ihrem Sohn zu ihren Eltern in die Hauptstadt, wo ihre Tochter geboren wurde. „Die Schwiegereltern verbreiteten das Gerücht, dass meine Tochter nicht das Kind meines verstorbenen Mannes sei.“ Ein schwerer Verstoß in der somalischen Gesellschaft.
Kurze Zeit später floh sie in die Türkei. „Alle redeten über mich, dachten meine Tochter sei aus einer Affäre entstanden.“ Die Kinder waren zu klein für die beschwerliche Reise und blieben bei ihrem Bruder und seiner Frau. In der Türkei fühlte sie sich isoliert und das Geld ging zu Ende. Sie heiratete einen Mann aus Somalia, in der Hoffnung, dass er ihr bei der Weiterreise helfen würde. Sie entschied, den Weg nach Europa auf sich zu nehmen. Es war aber nicht genug Geld für beide da, deshalb ging er zurück nach Somalia, um den Kindern zu helfen, und sie machte sich allein auf den Weg. „Ich wollte hierher kommen und meine Kinder nachholen. Ich möchte mit ihnen in Freiheit leben, wo weder die Gesellschaft noch sonst jemand mir sagt, wie ich zu leben habe, wo niemand mir das Leben vergiftet. Ich möchte nur auf mich selbst hören. Aber ich bin müde, verliere langsam die Hoffnung. Ich konnte lange nicht mit meinen Eltern und meinen Kindern reden.“ Sie bricht das Interview ab. Es ist genug.
Hilla und Istir warten beide noch auf ihren Asylbescheid. Und Ende Juni müssen sie die Notunterkunft verlassen. Istir sagt: „Natürlich möchte ich zurück in meine Heimat, nach Syrien. Aber ich erwarte nicht, dass dort in den nächsten 15 oder zwanzig Jahren wieder normales Leben möglich ist. Gebt mir mehr Lebenszeit, dann könnte ich zurückgehen. Aber ich bin vierzig und werde friedliche Zeiten in Syrien wohl nicht mehr erleben.“