Eine Art Hexenkessel wollte Kim de l’Horizon mit dem gefeierten „Blutbuch“ schaffen. Ein Gespräch über queere Literatur, fluides Schreiben und die Angst auf dem Nachhauseweg. Von Nele Posthausen.
an.schläge: Was bedeutet Queerness beim Schreiben, was ist ein queerer Text?
Kim de l’Horizon: Queerness beschreibt immer auch das Verhältnis zu dem, das eben nicht queer ist, das im selbst ernannten Zentrum steht. Ich denke diese Begriffe sehr räumlich: Das Queere ist das Schräge, das Straighte das Gerade. In Bezug aufs Schreiben heißt das also: Was stellt sich schräg in der Rechteckigkeit der Gesellschaft? Welche Formen tanzen aus der Reihe, sind gleichzeitig disruptiv, störend, aber tanzen dabei auch, haben und geben Freude? Mich interessieren auch Fragen von queerer Zeitlichkeit. Dass beispielsweise in anderen Zeiten queere Figuren, Szenen oder queeres Begehren beschrieben wurden und das gar nicht so ein Riesending war. Zum Beispiel in einem queeren DDR-Roman, den ich unlängst entdeckt habe. Ich glaube, dass sich heute verschiedene Zeiten überlappen. Es gab in den letzten Jahren große Öffnungen und zugleich ist da auch eine reaktionäre Bewegung, ein Backlash.
Das „Blutbuch“ bricht in vielerlei Hinsicht mit der Textsorte Roman. Es ist fragmentiert und durchaus anstrengend zu lesen.
Ich habe zehn Jahre an dem Schreiben gearbeitet, das dann in “Blutbuch” mündete. Mein Bild, wie ein echter Roman auszusehen hat, war das eines Gefäßes. Du füllst einen Inhalt rein, aber die Form gibt es schon und die muss auch so bleiben. Ich habe schnell gemerkt, dass das für mich nicht funktioniert. Also habe ich eine Form von Schreiben versucht, die sich aus sich selbst heraus zum Erscheinen bringt. Romane werden oft nur ex negativo definiert: Ein Roman ist keine Novelle, es ist kein Drama, keine Lyrik – aber was ein Roman tatsächlich ist, das bleibt schwammig. Und dennoch gibt es ein klares Gefühl, das sich einstellt, wenn wir einen Text lesen. Es sagt uns, ob das ein Roman ist oder nicht. Mit diesem und gegen dieses Gefühl habe ich geschrieben.
Du sprichst selbst von der „écriture fluide“.
Das ist ein Begriff, unter dem ich diese Form des Schreibens zu fassen versuche. Es gibt die „écriture feminine“ von der feministischen Theoretikerin Hélène Cixous in Abgrenzung zum Male Gaze und der männlichen, phallischen Form des Schreibens. Das war mir aber zu binär. Als sei „das Feminine“ etwas, das Frauen machen oder sind. Ich habe mich in einem Schreiben versucht, das Formen durchfließt. Das Buch hat verschiedene Teile, die auch verschiedenen Gattungen zugeordnet werden können. Das soll – auch wenn es etwas anstrengend ist – etwas Flüssiges haben, das einen benetzt oder anzieht. Etwas, das die Körper in andere Zustände bringt.
Inwiefern setzt du dich mit essentialistischen Perspektiven im Schreiben auseinander?
Ich setze mich kritisch mit differenzfeministischen Diskursen auseinander. Wie Judith Butler es in „Gender Trouble“ kritisiert hat: Die Feminismen der zweiten Welle nehmen meist eine Umkehrung der Vorzeichen vor. Aber da gibt es immer noch eine Opposition, in der das eine besser sein muss als das andere. Mich interessiert vielmehr: Wie kommen wir aus den Oppositionen und der Binarität heraus? Dabei ist mir das Fluide so wichtig, weil ich nichts brechen möchte. Politische Brüche funktionieren selten. Ich möchte etwas umspülen, vielleicht wie ein Fluss einen umspült und unmerklich abschleift.
Du stellst jedem Kapitel Zitate voran. Mal ist es Donna Haraway, mal ist es Sam Smith. Warum sind dir diese Referenzen wichtig?
Das sind für mich wie Zaubersprüche, die einen Ton für die jeweiligen Kapitel vorgegeben haben. Ich sehe das Blutbuch als eine Form von Hexenkessel, in den ich Sachen reingeschmissen habe oder sich Dinge auch selbst reingeschmissen haben. In wissenschaftlichen Arbeiten gibt mensch die Referenzen an, beim literarischen Schreiben bleibt oft unsichtbar, was alles hineingeflossen ist. Das führt zu diesem Genie-Begriff, bei dem die schreibende Person scheinbar alles aus sich selbst geschöpft hätte. Ich wollte zeigen: Von all diesen Leuten habe ich Dinge geklaut. Dabei war mir die Verbindung von theoretischen Elementen und Popkultur wichtig.
Wofür steht diese Verbindung?
Ich möchte Hierarchien entgegenarbeiten. Das Akademische tut so, als hätte es einen gültigen Anspruch auf Wahrheit, während Literatur immer Fiktion ist. Wer also „wahre“ Texte produziert, ist klar. Vom klassischen Feuilleton-Publikum wird Literatur ernst genommen, popkulturelle Texte aber nicht. Ich wollte zeigen, dass das verschiedene Formen von Wissen sind, die zwar in der Gesellschaft hierarchisiert werden, aber die ich nebeneinanderstellen und sich auf Augenhöhe begegnen lassen will. Das war wichtig für die Zitate, aber auch für die Figur der Meer, die nicht studieren konnte, sich aber doch eine Form von Wissen angeeignet hat.
Die Figur ist Teil einer autofiktionalen Erzählung. Inwiefern ist das „auto“ oder das „ich“ für dich wichtig in einem queeren Text?
Die Hauptfigur wird erst im vierten Teil „Kim“ genannt. Vorher ist sie namenlos. Ich bin an einer Aufweichung und Destabilisierung von Identität interessiert. So wichtig identitätspolitische Diskurse sind, so skeptisch bin ich gegenüber einer Dynamik, die Identitäten allzu sehr verfestigt. Grundsätzlich ist es zentral, sich sprechend im Geflecht von Macht und Sprache zu positionieren. In der Politik und Wissenschaft finde ich es wichtig und richtig, auch mal Sätze mit „Ich als [Identität der sprechenden Person]” zu beginnen. Allerdings braucht es auch Räume und Sprachen, die diese Identitäten verunsichern – damit sie nicht wieder essentialisiert werden. Deswegen ist das Blutbuch und ganz konkret die Biografie, die von mir im Buch steht, eine Form von Identität erschreiben.
Du hast als erster Autorin überhaupt sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis 2022 für einen Debütroman erhalten. Du wirst als queere Person gefeiert. Und gleichzeitig erlebst auch du im Alltag einen Backlash gegen queere Politiken.
Das ist, als würdest du ständig in zwei Filmen laufen. Als hättest du gleichzeitig eine Star-Rolle und die Rolle des geschlagenen Hundes. Ich habe viele Lesungen abgesagt, weil das Reisen so wahnsinnig anstrengend ist. Mich unterwegs sicher zu fühlen, ist fast unmöglich. Oft wenn ich Zug fahre, performe ich mich maskuliner, damit ich sicher bin. Dann gehe ich auf Bühnen und will mich so zeigen, wie ich mich schön fühle, und werde dafür meist gefeiert. Das ist so absurd. Ich glaube, das machen viele queere, trans Menschen in der Öffentlichkeit. Alok Vaid-Menon sagt: „Nobody asks me how I get home”. In den Shows wird Alok hochgejubelt, aber wie kommt Alok nach Hause? Das ist total gefährlich.
Welche Rolle spielt die Liebe in deiner Arbeit?
In einem Projekt, das ich gerade andenke, möchte ich über Liebe schreiben. Aber auch über das Gefährliche und das Übergriffige an Liebe. Greta Gerwig hat eine Figur in „Lady Bird“ sagen lassen, dass Aufmerksamkeit auch eine Form von Liebe sei. Das war eine Erfahrung, die ich mit dem Schreiben von Blutbuch gemacht habe. Auch wenn ich die Figuren teilweise als übergriffig, kalt und hart beschrieben habe, musste ich sie lieben lernen. Wenn nur Hass deine Motivation ist, um über eine Figur zu schreiben, dann wird sie eindimensional. Wenn zum Beispiel alte weiße hetero cis Männer zu Klischees werden, dann verändern wir nichts. Wie Butler sagte: Dann drehen wir nur die Vorzeichen um. Aber wir bleiben im Schatten des Phallus. Sich mal auszukotzen über gewisse Menschen kann gut und wichtig sein. Damit wir etwas richtig ernst nehmen können, müssen wir aber Wege finden, es auch zu lieben. Auch wenn das die schwierigsten Wege sind. •
Nele Posthausen ist Journalistin, studiert Gender Studies und besitzt eine große Neugier für postmoderne Wissensformen.