Weibliche Lust hat im Patriarchat keinen Platz. Praktisch, dass es vermeintlich einvernehmliche Lösungen gibt, um sie zu unterdrücken: Hormone. Wie Pille und Psychopharmaka die Libido (fast) unbemerkt kaputt machen. Von NICOLE SCHÖNDORFER
Hat sich die männlich dominierte Pharmaindustrie mit Hormonpräparaten gegen die weibliche Lust verschworen? Vielleicht nicht böswillig. Sie trägt jedoch einen wesentlichen Teil dazu bei, dass insgesamt vierzig Prozent aller Frauen unter zumindest einer sexuellen Funktionsstörung leiden. Die häufigste Dysfunktion ist eine gestörte Libido. Auch eine verminderte Orgasmusfähigkeit sowie Schmerzen beim Sex gehören dazu. Und daran sollen Hormone schuld sein? Mitunter ja.
Pille und Psychopharmaka. Die Medizinerin Lisa-Maria Wallwiener hat in ihrer Dissertation die Häufigkeit sexueller Funktionsstörungen bei über tausend deutschen Studentinnen im Zusammenhang mit oralen Verhütungsmitteln untersucht. Sie kommt zu dem Schluss, dass knapp ein Drittel der untersuchten Frauen, die mit der Anti-Baby-Pille verhüten, einem hohen Risiko ausgesetzt sind, unter einer solchen Störung zu leiden. Wallwieners Arbeit ist aktuell die einzige aussagekräftige Studie zur Wechselbeziehung von Pille und sexueller Dysfunktion. In Deutschland verhüten nach wie vor 53 Prozent aller Frauen mit der Pille. In Österreich sind es laut österreichischem Verhütungsreport 2015 immerhin 38 Prozent, bei den unter Dreißigjährigen 53 Prozent.
Doch nicht nur hormonelle Verhütung birgt das Risiko einer Störung der Libido. Frauen werden doppelt so häufig wie Männer mit Antidepressiva behandelt. Beide Präparate bringen den Hormonhaushalt nachhaltig durcheinander. Zwar schützt die Pille bekanntlich vor ungewollten Schwangerschaften und die Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs) hellen die Stimmung bei Depressionen auf. Doch kann es ein fairer Deal sein, dafür auf das Lustempfinden zu verzichten und somit auch ein gewisses Maß an Lebensqualität einbüßen zu müssen? Eine individuelle Entscheidung, klar. Sie sollte aber auch fundiert getroffen werden können, indem die Nebenwirkungen gegenüber Patient*innen hinlänglich thematisiert werden. Das scheint weder bei der Pille noch bei Psychopharmaka ausreichend zu passieren.
Sind Hemmungen ein Problem? Ja. Über Sex, vor allem aber über Probleme beim Sex zu sprechen, scheint zwischen Patient*innen und Ärzt*innen ein Tabu zu sein. Bei der Therapie mit Psychopharmaka steht die Behandlung der Krankheit im Vordergrund, sodass sich potenzielle negative Auswirkungen auf die Libido wohl nicht sofort als relevantes Thema aufdrängen. Wegweisende Studien der Universität Salamanca empfehlen jedoch dringend, sie zum Thema zu machen, da, so die Autor_innen, die Häufigkeit von sexuellen Funktionsstörungen bei der Therapie mit SSRIs unterschätzt wird. Sechzig Prozent der in der Studie befragten, mit Antidepressiva behandelten Patient*innen geben an, unter solchen Störungen zu leiden. Doch nicht nur das. Die Untersuchung besagt auch, dass Frauen weitaus schwerwiegender unter diesen Störungen leiden als Männer. Gendermedizin also.
Eine aktuelle Untersuchung, die sich speziell mit sexuellen Funktionsstörungen von Frauen beschäftigt, die mit Psychopharmaka behandelt werden, kommt von der Universität British Columbia. Sie zeigt, dass psychische Erkrankungen bei Frauen der größte Risikofaktor für besagte Dysfunktionen sind. Die fehlende Lust auf Sex sei untrennbar mit Depressionen und Angststörungen verbunden. Eine psychische Erkrankung bedeute allerdings nicht notwendigerweise, dass Sex für die betroffenen Patientinnen weniger wichtig wäre. Es ist, wie die Autorinnen kritisieren, ein Forschungsfeld, das kaum geschlechtsspezifisch bearbeitet wird. Dementsprechend reichen die sehr wohl relevanten Erkenntnisse kaum über einen Kreis von spezialisierten Wissenschaftler*innen hinaus. Sexuelle Dysfunktion bei Frauen bleibt weitgehend unsichtbar. Sie wird hingenommen, sogar als naturgegeben betrachtet.
Wundermittel Pille. Die Anti-Baby-Pille wird schon jungen Mädchen ohne große Aufklärung verschrieben. Über das erhöhte Thromboserisiko gehen die Gespräche zu den Nebenwirkungen selten hinaus. Außerdem hilft sie gegen Akne. Ein Wundermittel! Heranwachsenden Mädchen, die gerade erst sexuell aktiv geworden sind oder planen, es zu werden, wird so ohne Weiteres ein Medikament verschrieben, über das sie vorrangig wissen, dass sie damit nicht schwanger werden können und es bei Bedarf eine schöne Haut zaubert. Die fixe Verschreibung suggeriert zudem, wer in einer Beziehung für die Verhütung zuständig zu sein hat. Was die Pille mit Körper und Persönlichkeit machen kann, wissen die jungen Frauen nicht. Oft wissen sie das auch nach zwanzig Jahren der Einnahme nicht, schließlich haben sie damit angefangen, als ihnen noch nicht bewusst war, was sie beim Sex gut finden und was nicht.
Zu viele Frauen wachsen so in dem Irrglauben auf, dass (Hetero-)Sex für sie nun einmal so zu sein hat: dumpf und überbewertet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie bereits in der Pubertät eine gestörte Beziehung zu ihrer Sexualität entwickeln. Es kann Jahre und Jahrzehnte dauern, bis sie die Ursache für ihre Unlust in ihrer Verhütungsmethode überhaupt erst zu suchen beginnen. Das liegt auch daran, dass Frauen durch ihre Sozialisation, durch die unrealistischen Körperbilder, mit denen sie stets konfrontiert sind, meinen, „Fehler“ bei sich selbst suchen zu müssen. Außerdem lernen sie, dass es nicht ihre Befriedigung ist, die im Vordergrund stehen soll, sondern jene des Mannes. Die weibliche Lust muss zur Aufrechterhaltung der patriarchalen Ordnung kleingehalten werden.
Patriarchale Losung. Die sexuell autonome Frau feministischer Bewegungen war und ist ein Schreckgespenst. Sicher wurde die Anti-Baby-Pille im Kontext der sexuellen Revolution der 1960er-Jahre als feministischer Durchbruch gefeiert. Frauen konnten plötzlich über ihre Reproduktionsfähigkeit entscheiden. Sie tun dies selbstverständlich bis heute. Doch kann dieses Argument über fünfzig Jahre später nicht mehr der Weisheit letzter Schluss sein. Mit der Pille nimmt die Frau dem Mann schließlich auch eine lästige Verantwortung ab. Er kann so seinen Samen ohne die Konsequenz einer Schwangerschaft streuen. Sein Vergnügen wird maximiert, das der Frau minimiert. Im Alltag bleibt diese Ungleichverteilung oft von Frauen wie Männern unbemerkt. Schließlich wurden auch Letztere im Patriarchat sozialisiert. Auch sie müssen sich bewusst von der Vorstellung lösen, dass das (sexuelle) Machtgefüge zwischen Männern und Frauen so zu sein hat, wie es ihnen die Gesellschaft beigebracht hat.
Wie die Pharmaindustrie ist auch die Medizin immer noch viel zu männlich. Die junge Disziplin der Gendermedizin blüht in Nischen, ihre Erkenntnisse reichen strukturell bedingt jedoch kaum an die Mainstream-Oberfläche. Die Leidtragenden sind mehrheitlich Frauen. Es bedarf weiter feministischer Aufklärung. Wie immer.
Nicole Schöndorfer ist freie Journalistin in Wien. Über ihre Erfahrungen mit der Pille hat sie einen Blog geschrieben: www.therealnicoleschoen.com/ein-jahr-ohne