Was macht antirassistische Praxis aus? Von Berena Yogarajah
Erst letztes Jahr waren wir uns noch einig: Remigrationsfantasien der AfD? Nicht mit uns! Nun konkurrieren die starken Männer (und Frauen) dieser Welt um die größte Empathielosigkeit. Das Projekt „Gemeinsames Europäisches Asylsystem“ (GEA) und Asyl-Abschaffungspläne werden Realität, der Aufrüstungswahn greift um sich und Krieg wird normalisiert. Das Selbstbestimmungsgesetz steht neben dem „Genderverbot“ in Bayern, die Skandalisierung von Femiziden den Kürzungen in der Frauenarbeit gegenüber. Der Ruf nach einer progressiven Migrationspolitik hat wenig Resonanz erzeugt, die antirassistischen Früchte, die wir zu ernten träumten, hängen dieser Tage nicht sehr tief. Was können wir dagegen tun?
Zwei Strategien antirassistischer Praxis sind essenziell: Die Unterstützung von Betroffenen rassistischer Gewalt und die Politisierung dieser Fälle. Außerdem die Praxis, nationale Gesetzgebung im Alltag kreativ zu unterlaufen.
Das Verhärten verweigern. Zu Ersterem: Mouhamed Lamine Dramé starb im Sommer 2022 in der Dortmunder Nordstadt durch Schüsse der Polizei, während er in einer psychischen Akutbelastung war. Die politische Arbeit, die dort seither geschieht, steht stellvertretend für die spontane Solidaritätsarbeit an vielen Orten: Schnell haben sich Menschen zusammengeschlossen, auf den Fall aufmerksam gemacht und haben den Fall skandalisiert. Dank der Arbeit des Solidaritätskreises und solidarischer Aktivistinnen wissen wir um den Fall, gibt es eine Einbindung der Familie von Mouhamed, konnten wir den Gerichtsprozess auch aus der Ferne verfolgen. Dank dieser Arbeit gibt es sowohl unabhängiges als auch parteiliches Wissen, statt nur die Perspektive von Polizei und problematische Presseberichte. Sie haben eine kritische Gegenöffentlichkeit geschaffen, das Chaos inhaltlich analysiert, eingebettet und politisch gedeutet. Es wurde eingeladen, geschleppt, gekocht, betreut, geschrieben, kontaktiert. Die Unterstützerinnen haben sich verweigert, zu erkalten oder sich zu verhärten. Trauer, Empörung, Wut, Verzweiflung – sie haben diese Gefühle zugelassen und uns allen die Möglichkeit geboten, sie gemeinsam mit ihnen zu bearbeiten: Wir lassen einander nicht allein!
Bei dieser Art der Arbeit sind es häufig wenige Menschen, die Herzen, Hirnschmalz und Hände hingeben in Solidarität. Das ist nicht nur altruistische Zwischenmenschlichkeit, sie haben die Kontinuitäten, den Kontext und die ermöglichenden Bedingungen herausgearbeitet und den Faden, den andere zu knüpfen begonnen haben, nicht losgelassen. Das ist ein politischer Kampf, nicht „bloße Unterstützungsarbeit“.
Neue Fälle von Terror und Gewalt, von Verletzung und Erniedrigung werden darauf aufbauen können, was andere schon gesagt und getan, erschaffen und hinterlassen haben. Natürlich geht es um Mouhamed und darum, dass diese Morde nicht hingenommen werden können, aber es ging immer auch um so viel mehr. Das ist wichtig, um die politischen Begriffe von „Erinnern“ und „Gedenken“, wie sie im Kontext von antisemitischer und rassistischer Gewalt auftauchen, nicht ihres kämpferischen Inhalts zu entleeren. Es wird gekämpft, um die Würde der Menschen hochzuhalten. Es ist wichtig, nicht damit aufzuhören, Unrecht zu betrauern. Aber gekämpft wird auch um eine materielle Veränderung der Verhältnisse, ein Verstehen des Geschehenen und seiner Kontinuitäten und Konjunkturen, ein Verbünden über Generationen des Terrors und der Gegenwehr hinweg, um gegen die Verhältnisse zu kämpfen, die eng mit den Taten verwoben sind.
KOLLEKTIVES LERNEN. Diese Form der antirassistischen Solidarität kommt nicht aus dem Nichts: An den Morden des NSU zeigte sich deutlich, dass Angriffe auf migrantisches Leben, von Antifaschistinnen quasi unbemerkt, möglich waren. Die Forderung nach „Kein 10. Opfer!“ wurde von migrantischen Communitys im Mai 2006 in Kassel organisiert und artikuliert – fünf Jahre vor der Selbstenttarnung des NSU. Fünf Jahre, in denen es kaum antifaschistische Solidarität mit „Kein 10. Opfer!“ gab. Doch es gab das kollektive Lernen, dass jeder Angriff unsere Augen, Ohren und Hände braucht, als auch das Wissen darum, dass die Gegenöffentlichkeit selbst gemacht werden muss, dass der Druck selbst organisiert werden muss, dass es keinen Verlass gibt auf den Staat und dass wir diese Geschichten erhalten müssen, damit wir das Rad nicht jedes Mal neu erfinden, sondern die Kämpfe aufeinander aufbauen können. Es ist das Wissen darum, dass die gerichtlichen Prozesse einem Kampf zwischen David und Goliath gleichen, dass nur dann von Zuständigen ganz genau hingeguckt wird, wenn wir sie nicht einfach schalten und walten lassen. Für die zweite Strategie, dem kreativen Unterlaufen von Gesetzgebung, ist die Bezahlkarte ein gutes Beispiel. Durch ihre Einführung wurden Asylsuchende schikaniert, eingeschränkt und benachteiligt. Es handelt sich dabei um eine Art Guthabenkarte ohne zugehöriges Konto, mit der nur ein sehr geringer Betrag Bargeld abgehoben werden kann. Das Bezahlen mit dieser Karte wird jedoch nicht überall akzeptiert, günstiges Einkaufen ist erschwert, Geldtransfers, Vertragsabschlüsse und Onlinekäufe sind nicht möglich, auch für die Teilhabe an Sport und Kultur bietet sie keine Lösung. Schnell wurde überlegt, wie die Gesetzgebung umgangen werden kann: Asylsuchende kaufen mit ihrer Bezahlkarte Gutscheine im Supermarkt und können diese an Tauschorten gegen Bargeld einwechseln. Eine konkrete Praxis, die entstigmatisiert und auf bedürfnisorientierte Teilhabe abzielt – ganz im Sinne einer solidarischen Stadt, einer Stadt in der alle gleiche Rechte und Zugänge haben, unabhängig von ihren Papieren. „Solidarische Städte“ organisieren auf diese und viele andere Arten Widerstand, um illegalisierten Menschen Zuflucht zu bieten und ihnen zu sozialen Rechten zu verhelfen, die ihnen von der nationalen Politik verwehrt wird. Zivilgesellschaftliche Organisationen, manchmal aber auch kommunale Politikerinnen und Behörden erschaffen dadurch eine antirassistische Realität vorbei am nationalstaatlichen Soll: Im Bürger*innenasyl werden Menschen versteckt, damit sie nicht abgeschoben werden; mit anonymen Krankenscheinen können Menschen ohne Krankenversicherung medizinisch versorgt werden; mit städtischen und kommunalen Identitätskarten werden Menschen Grundrechte zuteil, die ihnen sonst verwehrt bleiben und mit dem Nichtbearbeiten von Akten werden Abschiebungen verhindert. Wenn wir nicht verhindern können, dass eine rassistische Gesetzgebung verabschiedet wird, können wir so zumindest darauf hinarbeiten, ihre Wirksamkeit zu reduzieren oder auszuhebeln.
Behalten wir dabei die Bruchstellen der organisierten Traurigkeit der Herrschenden im Blick und treten zur richtigen Zeit mit geballter Kraft rein. Bis dahin lasst uns die nötigen Bedingungen dafür schaffen und möglichst gut füreinander sorgen.
Berena Yogarajah ist Aktivistin in antirassistischen Kämpfen.