Alles klar, Frau Kommissar? Ganz im Gegenteil: TV-Serien mit gebrochenen Heldinnen sind momentan hip. Sind psychische Erkrankungen oder Traumata der Preis, den ein starker Frauencharakter bezahlen muss? Von GINI BRENNER
„A Girl and a Gun“, ein schönes Mädel und eine gefährliche Waffe. Das sei die einfachste, schlagendste Formel für einen erfolgreichen Krimi, behaupten die Verfechter des klassischen Film-Kanons und berufen sich dabei auf Godard. Möglicherweise ist das aber ein Riesenirrtum gewesen: Die Mehrheit des Zielpublikums steht eher auf fähige Frauen statt hübscher Deko-Mädel, wie es scheint. Krimi-Serien mit verqueren Kommissarinnen sind Dauerbrenner.
„Saga Norén, Kripo Malmö.“ So begrüßt sie jede_n, egal ob am Tatort oder im Nachtclub. Charmantes Lächeln wird man von ihr keines kriegen, dafür gerne eine patzige Ansage. Das Wort „Mitgefühl“ kommt in ihrem emotionalen Vokabular nicht vor. Sie ist keine Sympathieträgerin, sie ist anstrengend und nervig. In der Genre definierenden TV-Serie „Die Brücke“ ist Saga Norén (Sofia Helin), die Kommissarin mit Asperger-Syndrom, die unbestrittene ExpertInnenfigur: Mit untrüglichem Blick für Details und messerscharfer Kombinationsgabe kommt sie Serienkillern auf die Spur, die den Rest der Welt scheinbar mühelos ausgetrickst haben.
Gestreamt. Saga Norén in „Die Brücke“, die psychisch schwer angeschlagene Marcella Backland (Anna Friel) in „Marcella“, die durch eine Vergewaltigung traumatisierte Robin Griffin (Elizabeth Moss) in Jane Campions „Top of the Lake“ – in letzter Zeit haben Ermittlerinnen mit brüchigem Charakter Hochkonjunktur. Der klassische „Hardboiled“-Typus, einst durch Leute wie Raymond Chandler und Chester Himes groß geworden, tritt in Serien inzwischen immer öfter auch als Frau auf. Das liegt nicht zuletzt am Erfolg der Streaming-Portale Netflix, Amazon Prime & Co, die gerade bei Frauen erfolgreich sind: Wer sich selbst nicht im Kino wiederfindet, weicht auf Serien aus. Komplexe Protagonistinnen mit möglichst polarisierender Backstory sind momentan die Entdeckung der Streaming-Plattform-ProduzentInnen. Und sogar die Öffentlich-Rechtlichen ziehen mit.
Doch manche wissen das schon lange, nämlich Thriller-AutorInnen. Auch wenn es so wirkt, als schössen die komplex-schrägen Ermittlerinnen erst in letzter Zeit wie die Schwammerln aus dem Bildschirm – Leute wie Saga Norén, Angelika Schnell („Schnell ermittelt“), Bibi Fellner („Tatort“) oder Sarah Linden („The Killing“) können auf eine lange Ahninnen-Reihe zurückblicken. Das Krimi-Genre war tatsächlich immer schon ein Freiraum für komplexe Frauenfiguren, die sich für ihre Stärken und Schwächen weder entschuldigen noch rechtfertigen müssen.
Die Freiheiten der künstlerischen Charakterentwicklung weiblicher Figuren im Krimi-Genre sind tatsächlich bemerkenswert. 1875 erschien Wilkie Collins’ „The Law and the Lady“ – der erste Roman der bekannten Literaturgeschichte, in dem eine Frau als Detektivin fungiert. Und über die Brücke der Krimihandlung schafft es der männliche Autor trotz aller Konventionen seiner Zeit, seiner Hauptfigur Valerie echte Agency zu verleihen. Sie ist kein Ziergegenstand mit Dialog, sie ist Protagonistin im Wortsinn, die ihren Handlungsstrang um ihretwillen vorantreibt und nicht wie üblich, um männliche Aufmerksamkeit zu erlangen.
Selbst wenn die gegenwärtigen Thriller-Heldinnen in ihrer Gebrochenheit überaus zeitgeistig erscheinen, sind in der Genre-Geschichte erfreuliche Kontinuitäten zu entdecken. Schon die erste weltberühmte Ermittlerin, Agatha Christies ikonische Hobby-Detektivin Miss Marple (erster literarischer Auftritt: 1927) darf etwas, was dem Großteil der literarischen Heldinnen ihrer Zeit (und weit darüber hinaus) verwehrt war: Sie verfolgt ihr jeweiliges Ziel allein um des Zieles willen. Und dabei darf sie schrullig, unkonventionell, gar unattraktiv sein.
Selbstbestimmt. Genau das ist das Reizvolle an den Frauen im Krimi: In keinem anderen Genre geht es so sehr um die Protagonistin(nen) selbst, und nicht um den Blick auf sie. Ermittlerinnen werden von den AutorInnen und danach von den LeserInnen und ZuseherInnen definiert, nicht durch die Wahrnehmung anderer Figuren aus ihrem eigenen Kontext. Allerdings: Je komplexer ein Charakter ist, desto schwieriger wird es beim seelischen Close-up.
Doch auch das ist nichts Neues. Genau wie die Helden der klassischen Hardboiled-Krimis allesamt harte Kerle mit dezidiert problematischer Vergangenheit waren, bekamen auch die weiblichen Ermittlerinnen stets von ihren AutorInnen Steine in den Weg gelegt. Ein dunkelbunter Hintergrund macht eine Figur erst richtig spannend – eine Kommissarin, die etwas auf sich hält, hat entweder eine traumatische Vergangenheit, eine psychische Beeinträchtigung oder herausfordernde Familienverhältnisse, zuallermindest eine kaputte Partnerschaft oder böse pubertierenden Nachwuchs. In den 1980ern etwa stellte die bahnbrechende TV-Serie „Cagney & Lacey“ ein Detektivinnen-Duo in den Vordergrund, bei dem erstmals das „Nebenbei“ nicht aus Sex-Appeal, sondern aus Alltagstroubles zwischen Kindergarten-Sperrstunden und One-Night-Stands bestand. Bei dieser Art von Erzählung wird partielles Scheitern nicht dem Spott der BetrachterInnen preisgegeben, sondern macht die Protagonistin ganz im Gegenteil zu einer Identifikationsfigur für das Publikum, wenn nicht sogar zur echten Heldin: Während sie privat im Chaos versinkt, leistet sie beruflich Hervorragendes. Sie stellt ihre eigenen Bedürfnisse hintan, um der Gesellschaft zu dienen. Und dabei verzeiht man ihr sogar sanktionsfreie Promiskuität (wie z. B. in „The Fall“ mit Gillian Anderson) oder ihr Versagen als Mutter und Ehefrau („The Killing“).
Unkonventionell. Beim Krimi geht es um das Brechen von Regeln und die Konsequenzen daraus. Und genau wie bei den VerbrecherInnen liegt auch der Erfolg der Thriller-Idee selbst darin begründet, wie kreativ und geschickt die Regeln gebrochen werden. Krimi darf prinzipiell alles. Es ist keineswegs vermessen, das Krimi-Genre als eine Art Sandkiste für starke Charaktere zu sehen: Protagonistinnen sind oft erstaunlich frei von den gesellschaftlich tief verwurzelten Konventionen, die in anderen Erzählgattungen für die konsequente Bestrafung selbstbestimmt agierender Frauenfiguren sorgen. Oder gar bereits erfolgte Bestrafung nachträglich korrigieren müssen, wie in der (zu Recht) mehrfach ausgezeichneten True-Crime-Miniserie „Unbelievable“.
Nicht zu bedrohlich. Aber nur weil vieles stimmt, heißt das nicht, dass alles perfekt ist. Thriller sind, was die Gleichberechtigung anbelangt, weiter als viele andere Genres, aber lange nicht ein Diversity-Paradies. Erstens herrscht fast durchwegs Heteronormativität. Mit wenigen Ausnahmen, wie bei Phoebe Waller-Bridges („Fleabag“) großartiger Assassinen-Oper „Killing Eve“ oder bei Nebenhauptrollen in den Serien „Person of Interest“ oder „Mindhunter“ – doch auch hier bleibt die Queerness bestenfalls ein Gadget. Von der Selbstverständlichkeit sind wir noch weit entfernt. Und zweitens: Auch wenn es überdurchschnittlich viele emanzipierte Thriller-Protagonistinnen gibt, sie sind nach wie vor in der Minderheit – auf eine zerquälte Kommissarin kommen mindestens dreißig zwänglerische männliche Detektive. Außerdem darf man durchaus laut die Frage stellen, welchen Zweck die „Ecken und Kanten“ einer Ermittlerin wirklich erfüllen: Geht es tatsächlich darum, Frauenfiguren echte Stärke zu verleihen, oder braucht es sichtbare Schwächen, um diese Stärke ja nicht bedrohlich wirken zu lassen? Thriller-Bestsellerautorin Karin Slaughter (das ist übrigens tatsächlich ihr richtiger Name) spricht aus, was auch für TV-Kommissarinnen gilt: „Als ich vor zwanzig Jahren zu schreiben begann und meine Figur Sarah Linton erfand, war mir sehr bewusst, dass ich sie nicht zu souverän machen durfte, auch nicht zu attraktiv oder zu smart, weil die Leute sie dafür hassen würden. Bei männlichen Thriller-Hauptfiguren ist das anders. Die dürfen alles können. Das Publikum akzeptiert männliche Superhelden, aber es tendiert dazu, weibliche Superheldinnen abzulehnen. Frauen dürfen nie perfekt sein. Wenn sie extrem talentiert sind, dann sind sie eine Bitch oder sozial unterentwickelt, oder sie mussten sonstwie große Opfer bringen.“
Gini Brenner ist Wienerin aus Linz, seit 25 Jahren Popkultur-Journalistin, Mutter einer Tochter und verehrt Rosa Luxemburg & Marlene Dietrich.