Auf die feministische Revolution müssen wir zumindest auf der Leinwand nicht länger warten. Eine ganze Reihe von Serienhits beweist: Frauen erzählen die besseren Geschichten. Von BRIGITTE THEIßL und VANESSA SPANBAUER
„Hast du schon mal eine Pussy geleckt? Ich will, dass du meine leckst.“ Alyssa begehrt, Alyssa ist direkt. Wenig verwunderlich also, dass die Protagonistin der britischen Dramedy-Serie „The End of the F***ing World“ allerorts aneckt. Bei der Kellnerin im Diner, die vorwurfsvoll ihre Brauen zusammenzieht, und bei ihrem widerlichen Stiefvater, der im Hinterzimmer die Hand um ihre Taille legt. Eine jugendliche Heldin wie Alyssa (Jessica Barden) wäre noch vor einem Jahrzehnt kaum denkbar gewesen. Viel zu laut und unangepasst tritt die junge Frau in der schwarzhumorigen Serie auf, zeigt sich verletzlich und zugleich sexuell fordernd.
„The End of the F***ing World“ ist nur eine von vielen Serien mit komplexen weiblichen Charakteren, die TV-Sender und Streaming-Plattformen in den vergangenen Jahren veröffentlichten. Ein „goldenes Zeitalter feministischen Fernsehens“, das da angebrochen sei, formulierte es eine Journalistin im britischen „Guardian“. Warum das so lange gedauert hat – rückblickend kaum zu begreifen. In Erfolgsproduktionen wie „Orange Is The New Black“, „Glow“ oder „Grace and Frankie“ sind Frauen nicht länger schmuckes Beiwerk oder schlicht dazu da, die Entwicklung des Protagonisten voranzutreiben. Sie brillieren und scheitern, haben schlechten Sex und masturbieren, sind lesbisch und trans – gute Serien liefern eben unterschiedliche Identifikationsangebote. „Frauen müssen nicht immer sympathisch und stark, sie können auch böse und anstrengend sein – die Zuseher*innen können sich daran abarbeiten“, sagt Filmwissenschaftlerin Melanie Letschnig.
On Demand. Streaming-Diensten wie Netflix und US-amerikanischen Kabelsendern ist die Fernseh-Revolution im Wesentlichen zu verdanken. Das 1997 gegründete Netflix, das anfänglich DVDs in amerikanische Wohnzimmer schickte, sattelte 2007 auf Video-on-Demand um – und mischte innerhalb kurzer Zeit den Markt auf. Als Pionierin der neuen Erzählweise im TV gilt jedoch die HBO-Produktion „Sopranos“, ein Mafia-Epos über sechs Staffeln, das mit brillanten Autoren, aber auch einer ordentlichen Portion Frauenverachtung aufwartete. Erfolgsserien wie „Breaking Bad“ oder „Boardwalk Empire“ funktionierten nach demselben Prinzip: komplexe Leads gemischt mit großmäuligen Mackern, denen Frauen vorwiegend Probleme machten.
Produktions- und Vertriebsformen der Streaming-Dienste und die wachsende Konkurrenz eröffneten jedoch auch den Macher*innen ganz neue Möglichkeiten, ihre Geschichten zu erzählen. Geschichten von politischer Intrige wie in „House of Cards“ und „Scandal“, aber auch von sexueller Lust und Freundschaft oder permanent gestressten „Working Moms“ – die lange Zeit allerhöchstens in der Frauen-Ecke zu finden waren, wo sich stereotype Charaktere ein Stelldichein gaben.
Das Group-of-Girls-Genre, das in den 1990ern vom Markenfetisch-Format „Sex and the City“ geprägt wurde, erfand Lena Dunham in den 2010er-Jahren neu. In der HBO-Produktion „Girls“ erzählte Dunham aus dem Alltag von vier Mittzwanzigern in Brooklyn und brachte heikle Themen wie HPV, sexuelle Übergriffe und Abtreibung aufs Tapet. Auch wenn das Setting – weiße, privilegierte Hetero-Frauen in der Großstadt – auf Altbekanntes setzte, lieferte „Girls“ Bilder, die so zuvor im Hauptabend-TV noch nicht zu sehen waren. Etwa als Protagonistin Hannah (Lena Dunham) selbstvergessen und enthemmt Sex auf einer Tischtennisplatte hatte – inklusive wippender und perfekt ausgeleuchteter Speckringe.
Auch Frauen sehen fern. Erfolgsproduktionen wie „Girls“ wirkten auch auf die Produzent*innen augenöffnend: Frauen wollten sich nicht länger mit den Erzählungen weißer Männer abspeisen lassen. „Die Produktionsfirmen machen das nicht, weil sie so nett oder freigiebig wären. Sie haben erkannt, dass Frauen und queere Personen in ihrer Diversität angesprochen werden wollen und dass sie sich eben ein anderes Figurenregister überlegen müssen“, sagt Filmwissenschaftlerin Letschnig.
Die neue Vielfalt an TV- und Filmproduktionen bietet indes nicht nur Frauen, sondern auch Schwarzen und Schauspieler*innen of Color endlich interessante Rollen abseits stereotyper Register. Wie wichtig es schon für Kinder ist, sich selbst auf der Leinwand zu erkennen und ernstgenommen zu fühlen, zeigt eine 2012 in der Fachzeitschrift „Communication Research“ veröffentlichte Studie. Die US-amerikanischen Forscher*innen begleiteten dafür rund vierhundert Kinder, die regelmäßig fernsahen. Für Schwarze Mädchen und Buben und für weiße Mädchen hatte der TV-Konsum ein vermindertes Selbstbewusstsein zur Folge, nur eine demografische Gruppe erhielt vor dem Bildschirm einen Ego-Boost: weiße Buben.
Veränderung ist mittlerweile nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera im Gange. Zwar sind Produktionsstudios und das Regie-Fach immer noch stark männlich dominiert, doch weibliche Hollywood-Größen beginnen sich zusammenzuschließen. So gründete etwa Reese Witherspoon, die im All-Female-Cast von „Big Little Lies“ brillierte, „Hello Sunshine“, ein Unternehmen, das bevorzugt „female driven stories“ produziert. Neue Standards setzt auch ein Projekt von Oprah Winfrey und Ava DuVernay, sagt Filmwissenschaftlerin Letschnig. So kreierte die afroamerikanische Starregisseurin Ava DuVernay mit Winfreys Unterstützung die Serie „Queen Sugar“ und engagierte ein rein weibliches Regie-Team.
#Oscarssowhite. Anerkennung bekommen die innovativen Geschichtenerzählerinnen endlich auch bei Preisverleihungen wie dem Golden Globe oder den Emmys, die ähnlich wie die Oscars die Leistungen Schwarzer, indigener und Personen of Color allzu lange übergingen. So erhielt 2017 Lena Waithe gemeinsam mit Aziz Ansari einen Emmy für das beste Drehbuch einer Folge von „Master of None“, in der sie ihr eigenes Coming-out als lesbische Schwarze Frau verarbeitete.
Wirft man einen Blick auf das große Ganze, schaut es freilich weniger rosig aus. Eine Untersuchung der Annenberg Foundation von neunhundert Filmen zwischen 2007 und 2016 zeigt, dass lediglich zwölf Prozent einen vielfältigen Cast aufweisen und es nur in 34 Prozent einen weiblichen Lead oder Co-Lead gibt. In nur 24 der US-Top-100-Filme aus dem Jahr 2016 war indes ein LGBT-Charakter zu sehen. Ähnliche Zahlen liefert eine Untersuchung der Universität Rostock für das deutsche Fernsehen. So fanden die Forscherinnen Elizabeth Prommer und Christine Linke heraus, dass über alle Programme hinweg eine weibliche Darstellerin auf zwei männliche Darsteller kommt. Ab Mitte dreißig verschwinden die Frauen vom Bildschirm: Bei der Gruppe der über Fünfzigjährigen kommen drei Männer auf eine Frau.
Kleine Schritte, große Wirkung. Und dennoch: Es herrscht Aufbruch in der Unterhaltungsbranche – dem zuletzt auch #MeToo kräftigen Aufwind verschafft hat. Selbst in Hollywood, wo die Mühlen bekanntlich langsamer mahlen. Traditionsstudios, die Mainstream-Hits rund um den Globus schicken, gehen ungern Risiken ein. Blockbuster müssen in erster Linie gefällig sein. Das gilt auch für die Superheld*innen-Filme der vergangenen Jahre – kalkulierte Kassenschlager für eine eingeschworene Fangemeinde. Für Aufruhr sorgten dementsprechend „Wonder Woman“ und „Captain Marvel“, zwei finanziell sehr erfolgreiche Filme, die entgegen aller Befürchtungen das männliche Publikum nicht verschrecken konnten. Superheld*innen seien in Hinblick auf Geschlechterbilder gerade deshalb relevant, weil sie ein so großes Publikum erreichen, sagt Melanie Letschnig. „Wonder Woman ist kein super feministischer Film, aber er erzählt die Geschichte einer starken, kämpferischen Frau. Es ist ein Anfang“, sagt die Filmwissenschaftlerin.
Aber auch Menschen, die keine Lust auf Superheld*innen-Filme haben, können Heldinnen auf der Kinoleinwand entdecken. Denn die besten Heldinnengeschichten sind immer noch die, die das Leben schreibt. So geschehen bei Katherine Goble, Dorothy Vaughan und Mary Jackson – drei afroamerikanische Mathematikerinnen, die in den 1960ern für die NASA tätig waren und durch ihre Arbeit die großen Erfolgen bei unbemannten und bemannten Weltraumflügen möglich machten. Der Film „Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen“ erzählt die einem breiten Publikum unbekannte Geschichte dreier Schwarzer Frauen und feierte damit lebensechte Heroines. Heldinnen, die auch eigenen Heldinnentaten möglich erscheinen lassen.