„Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“, das zeigt die Philosophin und Professorin Olga Shparaga eindrücklich in ihrem gleichnamigen neuen Buch. Mit Michaela Geboltsberger hat sie über die Beteiligung von Frauen bei den Protesten in Belarus gesprochen.
Die Revolution in Belarus begann im August 2020 in Minsk, nachdem Alexander Lukaschenko, der das Land seit 1994 autoritär regiert, Wahlmanipulation vorgeworfen worden war. Monatelang gab es Massenproteste für demokratische Wahlen. Ein Jahr danach ist Lukaschenko weiterhin an der Macht. Die Flucht der olympischen Sprinterin Kristina Timanowskaja ist nur ein Beispiel für die massiven und immer brutaleren Repressionen, denen nicht alleine die Opposition, sondern inzwischen große Teile der Gesellschaft in Belarus ausgesetzt sind.
an.schläge: Wie beurteilen Sie die jüngsten Entwicklungen in Belarus?
Olga Shparaga: Die Flucht der olympischen Leichtathletin Kristina Timanowskaja, die Verhaftung von Roman Protasevich, der Tod von Witali Schischow und viele andere schreckliche Ereignisse zeigen, wie weit die Repressionen und die Gewalt gehen. Bis heute ist es der Protestbewegung nicht gelungen, ihre Forderungen nach politischer Freiheit durchzusetzen. Das Regime antwortet mit brutaler Härte. Wir wissen aber, dass die Revolution noch nicht vorbei ist, auch wenn Lukaschenko das gerne glauben machen möchte. Die Gesellschaft hat sich verändert und dieser Wandel ist unumkehrbar. Denn die Protestierenden sind sich einig: Es gibt kein Zurück mehr.
Frauen spielen bis heute bei den Protesten eine wichtige Rolle, das zeigen Sie eindrücklich in Ihrem Buch. War die Revolution also auch eine feministische?
Ja. Einerseits spielte die MeToo-Bewegung eine wichtige Rolle bei den feministischen Protesten, die internationale Bewegung hatte auch in Belarus große gesellschaftliche Resonanz. Zudem gab es bereits seit 2001 Versuche, ein Gesetz gegen häusliche Gewalt in Belarus zu verabschieden, um Frauen zu schützen. Im Jahr 2018 gab es einen neuen Vorstoß, dieses Gesetzesvorhaben endlich umzusetzen. Es wurde jedoch von Lukaschenko verhindert, bis heute gibt es in Belarus also kein Gesetz gegen häusliche Gewalt.
Feministische Gruppen sahen in den Protesten nach der Präsidentschaftswahl 2020 eine Möglichkeit, diesem Gesetzesentwurf wieder zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Die Revolution war ein Anstoß, um in die Öffentlichkeit zu treten und feministische Forderungen generell voranzutreiben. Denn obwohl Frauen in Belarus gut ausgebildet sind, sind sie im Berufsleben weiter stark benachteiligt.
Die Massenproteste in Belarus waren von Anfang an von feministischen Aktionen begleitet, es gab Solidarisierungsketten, Frauenmärsche und zahlreiche Veranstaltungen, auch auf lokaler Ebene. Viele feministische Aktivistinnen beteiligten sich daran, um die Themen Gender-Equality und Frauenrechte in den öffentlichen Diskurs zu bringen, während sich immer mehr Frauen den Protesten gegen die Regierung anschlossen.
Bei den Frauenmärschen, die ab August 2020 stattfanden, gab es Plakate mit der Aufschrift „Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit“. Wie veränderte sich das Frauenbild mit der Revolution?
In Belarus begann ein immer größerer Teil der Gesellschaft, sich aktivistisch zu betätigen und öffentlich sichtbar zu werden: Personen aus unterschiedlichen sozialen und gesellschaftlichen Gruppen gingen gemeinsam auf die Straße. Man kann von einer gesellschaftlichen Emanzipation sprechen. Dabei veränderte sich vor allem auch die Selbstwahrnehmung der Protestierenden, von einer passiven Bürger:innenposition in Richtung politische Mitbestimmung und Demokratie. Diese Veränderung war sicherlich auch dem weiblichen Dreierteam der politischen Opposition geschuldet, den drei Frauen, die gegen Lukaschenko zur Präsidentschaftswahl angetreten waren: Maria Kolesnikowa, Veronika Zepkalo und Swetlana Tichanowskaja hatten – bevor sie die politische Führung der Opposition übernahmen – keinerlei politische Ämter inne. Sie alle traten ihre politischen Funktionen an, nachdem die männlichen Spitzenkandidaten entweder nicht zur Präsidentschaftswahl zugelassen oder inhaftiert worden waren. Im gemeinsamen Kampf gegen das Regime schlossen sie sich zur Dreierspitze zusammen. Das war eine wichtige Form des Empowerments, viele Frauen aus unterschiedlichen Milieus hatten nun endlich weibliche Vorbilder bekommen.
Ein weiterer wichtiger Punkt war die Diversität der Gesellschaft. Lukaschenko verbreitete den Mythos einer homogenen Gesellschaft, in der ihn die Mehrheit unterstützte. Und plötzlich schlossen sich die unterschiedlichsten Gruppen zusammen und beteiligten sich an den Protesten. Es gab ein hohes Maß an Solidarität zwischen den Gruppen. Die Bevölkerung bekannte sich zu ihrem Pluralismus.
Inwieweit solidarisierten sich auch die Männer mit den Frauen?
Erstens waren Männer begeistert von den weiblichen Protesten. Sie wurden von den Aktionen der Frauen im öffentlichen Raum mitgerissen und mir scheint, dass Frauen dadurch auch eine höhere Wertschätzung im familiären Umfeld bekommen haben. Im Zuge meiner Tätigkeit bei der FemGruppe des Koordinierungsrates (eine Gruppe aktiver Feministinnen, die sich während der Proteste gebildet hat, um sich für Gendergerechtigkeit in Belarus einzusetzen, Anm. d. Red.) kann ich beobachten, dass sich nun mehr Frauen aus häuslichen Gewaltsituationen befreien. Das heißt, dass sich das neue Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit als Politikerinnen und Aktivistinnen auch im Privaten widerspiegelt. Zweitens hat die gesamte Gesellschaft sozusagen eine feministische Sprache benutzt, um die Gewalttätigkeit des Staates zu thematisieren und sich gegen diese zusammenzuschließen. Auch darin zeigt sich meiner Meinung nach die Solidarisierung von Männern mit Frauen. Ihre Solidarisierung war ein wichtiges Instrument, um geschlossen gegen das staatliche Regime aufzutreten, und führte zu einem enormen Empowerment von Frauen. Frauen wollen nun nicht länger Gewalt dulden – weder staatliche noch familiäre.
Die Gesellschaft hat sich seit 1994 – in der fast 27-jährigen Amtszeit Lukaschenkos, während das politische System des Autoritarismus erstarkte – verändert, pluralisiert und ist auch empathischer geworden. In Belarus gibt es keinen politischen Pluralismus, keine unabhängigen politischen Institutionen und keine echte Opposition. Diese Dichotomie eines starren politischen Systems einerseits und einer sich emanzipierenden Gesellschaft andererseits war sicherlich ein Grund für den Ausbruch der Revolution.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft von Belarus aus, was ist Ihre Vision?
Die Leute haben sich gegen Lukaschenko vereinigt, sie haben sich gegen Autoritarismus und für Demokratie entschieden. Es haben sich unterschiedliche Bürger:innen solidarisiert, ohne sich zu homogenisieren. Leute aus den unterschiedlichsten Bereichen, aus dem Arbeiter:innen- und aus dem bürgerlichen Milieu, Frauen, Studierende, Personen aus der LGBTQI-Community haben sich zusammengeschlossen durch ihr gemeinsames politisches Ziel, um die autoritäre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Im Prozess der Revolution gab es eine große Offenheit und ich sehe diese Diversität als Voraussetzung für eine friedliche, offene und demokratische Gesellschaft der Zukunft. •
Michaela Geboltsberger ist Kuratorin und arbeitet als Geschäftsführerin der IG Architektur in Wien. Gemeinsam mit dem Verein tranzit.at hat sie das Projekt „Solidarity Belarus“ ins Leben gerufen.