In Österreich haben Menschen ein besonders schlechtes Bild von der EU – aber wie hat sie uns eigentlich in Sachen Gleichstellung vorangebracht? LAURA HELENE MAY hat sich vor der Europawahl am 9. Juni umgehört.
Die Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben, ist von Anfang an ein Ziel der Europäischen Union. Die rechtliche Grundlage dafür liegt schon in den Römischen Verträgen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957. Die nackten Zahlen jedoch sagen etwas anderes. Frauen in Europa verdienen durchschnittlich immer noch 13 Prozent weniger als Männer im gleichen Job, mehr als ein Drittel der europäischen Frauen haben bereits psychische oder sexuelle Gewalt erlebt. Und auch in den oberen Wirtschaftsetagen sieht es nicht besser aus: Nur sieben Prozent der CEOs sind weiblich.
CARE-DEAL. Hat die EU also gar nichts erreicht in den letzten Jahren? Doch, sagt Evelyn Regner, SPÖ-Abgeordnete im Europaparlament. „Noch nie wurden so viele Gesetze in einer Legislaturperiode verabschiedet, die Frauen zugutekommen, wie in dieser.“ Nach zehn Jahren Blockade ging etwa die Quotenregelung für Frauen in Führungspositionen (Women on Boards Directive) durch. Sie sorgt dafür, dass mindestens vierzig Prozent der Aufsichtsrät:innen ab 2026 weiblich sein müssen. Die Regelung wird die Unternehmenskultur der größten europäischen Unternehmen zum Positiven verändern und Frauen eine reelle Chance auf Top-Positionen ermöglichen, ist Regner überzeugt. Die sogenannte Lohntransparenz- Richtlinie und die Europäische Mindestlohn-Richtlinie sollen die ökonomische Ungleichheit zwischen Männern und Frauen bekämpfen – eine der größten Herausforderungen der Gleichstellungspolitik. Neben dem Lohngefälle ist in wirtschaftlicher Hinsicht vor allem die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit ein Problem. Denn wer unbezahlte Pflegearbeiten übernimmt, arbeitet öfter in Teilzeit, unterbricht die berufliche Laufbahn und bekommt später eine niedrigere Alterspension. „Von Frauen wird nach wie vor erwartet, dass sie die Pflege für ältere Familienangehörige oder Kinder übernehmen. Das trifft sowohl auf Österreich als auch auf die anderen EU-Mitgliedstaaten zu“, sagt Grünen-EU-Abgeordnete Monika Vana. Sie fordert als Ergänzung zum Green Deal deshalb einen „Care Deal“ mit massiven Investitionen in Gesundheit, Pflege und öffentlichen Dienstleistungen.
NACHZÜGLER ÖSTERREICH. Das sogenannte Gender-Mainstreaming, also die Einbeziehung der Geschlechterperspektive in alle Politikbereiche, ist theoretisch in der „Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020-2025″ für die Mitgliedstaaten festgeschrieben. Doch die Realität sieht oft anders aus. In Österreich hat sich die Erreichung der Ziele seit der ersten Amtszeit von Sebastian Kurz und FPÖ 2017 sogar verlangsamt, sagt Vera Glassner, Referentin für Arbeitsbeziehungen und Geschlechterungleichheiten der Arbeiterkammer Wien. „Seither fehlt eine progressive Frauenund Gleichstellungspolitik.“ Der letzte Frauenbericht liege 14 Jahre zurück, „das Frauenministerium hat kein Interesse, so einen Bericht zu veröffentlichen“. Österreichs Familienpolitik sei immer schon konservativ. Das zeige sich etwa in der zweithöchsten Teilzeitquote von Frauen in der EU – jede zweite Frau in Österreich arbeitet Teilzeit – oder bei der Kinderbetreuung. Nicht einmal ein Drittel der Kinder bis zwei Jahre sind hier in einer Betreuungseinrichtung – das aktuelle EU-Ziel sind fünfzig Prozent. Mit der sogenannten „Herdprämie“ in Oberösterreich und Salzburg oder der ÖVP Idee einer „Großelternkarenz“ sind aktuell sogar Rückschritte zu beobachten.
Auch die Gewalt an Frauen bleibt alarmierend: Im Jahr 2024 gab es laut Medienberichten bis dato bereits sieben Femizide und 14 Fälle schwerer Gewalt an Frauen alleine in Österreich. „Das sind schockierende Zahlen und die österreichische Regierung ergreift immer noch keine wirksamen Maßnahmen dagegen”, sagt Abgeordnete Regner. EU-Richtlinien führen in Österreich aber insgesamt zu einer Verbesserung der Gleichberechtigung, auch wenn vieles laut Glassner nur zögerlich umgesetzt wird. „Ein Großteil der nationalen Gesetzgebung ist heutzutage die Umsetzung von EU-Recht in nationales Recht”, sagt Vana. Im Vergleich zu den 28 Mitgliedstaaten liegt Österreich in Sachen Gleichberechtigung laut dem europäischen „Gender Equality Index“ aktuell vor Deutschland mit 71,2 Punkten auf Platz zehn. Schweden führt die Liste mit 82,2 Punkten an, Schlusslicht ist Rumänien mit 56,1 Punkten. Die Statistik zeigt: Gleichberechtigung der Geschlechter ist immer auch eine Frage von Wohlstand und Gleichheit in der Gesellschaft insgesamt.
VERPASSTE CHANCE. Gleichstellungspolitik wiederum ist in der Praxis oft ein ideologisches Ringen. Will die Frau nicht selbst gerne am Herd stehen? Ist es wirklich ein strukturelles Problem oder einfach eine individuelle Entscheidung? Ein aktuelles Beispiel für diese weltanschaulichen Grabenkämpfe innerhalb der EU-Institutionen ist die Verabschiedung des Gewaltschutzpakets gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Durch eine Blockade im Rat – u. a. von Deutschland, Frankreich und Ungarn – wurde der Strafbestand der Vergewaltigung nach dem Prinzip „Nur Ja heißt Ja“ nicht in die Richtlinie gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt aufgenommen. Damit bleiben Vergewaltigungen ein schwammiges Konzept der nationalen Gerichtsbarkeit, bei dem die Frau oft beweisen muss, dass sie wirklich nein gesagt hat. Laut SPÖ-Abgeordneter Regner reicht Abstimmverhalten gegen progressive Geschlechterpolitik innerhalb der EU weit über die Fraktionen am rechten Rand hinaus. Zuletzt stellten sich auch liberale und konservative Regierungsparteien gegen wegweisende Gesetzgebungen. „Die deutsche FPD war eine der Gegenstimmen, die dazu beigetragen haben, dass die Kriminalisierung von Vergewaltigungen unter dem Grundsatz ‚Nur Ja heißt Ja‘ nicht im Gewaltschutzpaket festgeschrieben werden konnte. Zum Nachteil aller Frauen in der EU.“
Eine länderübergreifende Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos prognostiziert, dass die beiden rechten Fraktionen im EU-Parlament (ID und ECR) nach der Wahl im Juni mehr als ein Fünftel aller gewählten Abgeordneten im EU-Parlament stellen werden (aktuell belegen sie rund 18 Prozent der Sitze). Viele rechte Parteien wollen nicht nur der Gleichstellung einen Riegel vorschieben, sondern betreiben aktiv frauenfeindliche Politik, wie das etwa die PiS-Regierung in Polen und Orbán in Ungarn demonstrierten. Umso wichtiger scheint ein klares Bekenntnis zu emanzipatorischer vonseiten der liberalen und konservativen Fraktionen. Die Debatten um den Strafbestand der Vergewaltigung haben das Gegenteil gezeigt, auch wenn etwa die deutsche FDP offiziell nicht aus ideologischen, sondern aus juristisch-bürokratischen Gründen dagegen stimmte. „Es ist absolut inakzeptabel, aber sehr bildhaft dafür, gegen welchen Widerstand wir ankämpfen“, sagt Grünen-Abgeordnete Vana.
FEMINISTISCHE AUSSENPOLITIK. Abseits des Streits um Geschlechterquoten, Lohngleichheit, Kinderbetreuung und Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt ist Gleichstellungspolitik in Europa ein Thema, das auch Außen- und Sicherheitspolitik beeinflusst. Spätestens seit sich Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) den Leitlinien feministischer Außenpolitik verschrieben hat, wird darüber gerätselt, was das eigentlich bedeutet. Auf einer Metaebene wird das Konzept, das seinen Ursprung im Internationalen Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag hat, als außenpolitische Praxis definiert – inklusiv, pazifistisch und machtkritisch. Konkret wurde 2020 ein Bericht angenommen, der die Gleichstellung der Geschlechter in der Außenund Sicherheitspolitik der EU fordert. Laut Vana setzt die globale Frauenbewegung bei dem Thema auf die EU als Role Model – doch der Anteil an weiblichen EU-Botschafterinnen beispielsweise liegt derzeit nur bei 36 Prozent. Und wie in der Arbeitswelt ist die Repräsentation ein wichtiger Faktor, auch wenn sie keine feministische Politik garantiert. „Die Dringlichkeit ist derzeit sogar besonders hoch. Gerade jetzt sehen wir wieder, wie in Konflikten weltweit sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt wird“, sagt Regner. Das Ergebnis der Europawahl im Juni jedenfalls wird auch für die Gleichstellungspolitik vermutlich nachhaltige Konsequenzen haben.
LAURA HELENE MAY schreibt als freie Journalistin für deutsche und österreichische Medien über Kultur und Politik.