In Kuba organisieren sich feministische Aktivistinnen gegen Gewalt an Frauen – trotz staatlicher Repressionen. Eine Reportage von Linda Peikert.
Am Himmel über Havanna ist keine Wolke zu erkennen. Es hat über dreißig Grad im Schatten, die Straßen der kubanischen Hauptstadt sind belebt. Ein Mann steht hinter einem mobilen Gemüsestand und verkauft Tomaten. Der Bäcker hat geschlossen. Wie meistens ab Mittag ist Brot schon ausverkauft. Eine Frau schleppt einen Reissack, eine andere, mit Kind an der Hand, ruft ihr entgegen: „Wo gab es heute Reis?“
Eine häufig gestellte Frage, denn Essen, Medikamente und andere Dinge des täglichen Lebens sind oft Mangelware. Kuba steckt in einer schweren Krise. Viele sagen, es sei die schlimmste seit den 1990er-Jahren. Erst Corona, dann eine Verschärfung US-amerikanischer Sanktionen. Und auch der Tourismus hat sich seit der Pandemie nicht wieder erholt. Viele Restaurants sind so leer wie ihre Speisekarten. Seit der Machtübernahme durch Fidel Castro sind nicht mehr so viele Menschen Richtung USA geflüchtet.
Welle an Femiziden. Damarys Benavides hat leuchtend blaue Braids und ein mitreißendes Lachen. Sie kommt gerade von einem Musikvideodreh im Zentrum von Havanna. „Durch diese Welle des Feminismus, die uns in ganz Lateinamerika erreicht hat, habe ich festgestellt, wer ich sein möchte und gesehen, was Frauen alles erreichen können“, sagt Damarys. Daraufhin habe sie angefangen, Lieder und Gedichte zu feministischen Themen zu schreiben und bei feministischen Projekten mitzuarbeiten. „Frauen werden oft als Objekte wahrgenommen. Und es liegt an uns, uns zu verteidigen“, sagt die Rapperin entschlossen. Denn das sei dringend nötig. „Wir befinden uns momentan mitten in einer Welle von Femiziden, Missbrauch und Gewalt gegen Frauen“, berichtet Damarys.
So viel Gewalt gegen Frauen hätte es bisher nicht gegeben – oder man habe es eben nicht mitbekommen, weil nicht darüber berichtet wurde. Das sei schwierig zu beurteilen, denn Presse und Fernsehen werden von der kubanischen Regierung gesteuert. Seit der Pandemie gibt es jedoch Internetanschluss auf dem Inselstaat. Mit dem Internet komme auch Vernetzung. Die Stimme von Aktivist*innen oder unabhängigen Blogger*innen würden endlich gehört. Davor konnte man zwar mit einer Art Telefonkarte an öffentlichen Plätzen mit dem Smartphone online gehen, aber das war teuer und aufwändig.
Über Gewalt gegen Frauen und Femizide wird heute in Sozialen Medien diskutiert. In den ersten elf Wochen dieses Jahres soll es in Kuba laut der Organisation Cubalex zu 19 Femiziden gekommen sein. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich deutlich höher, denn es sind nur feministische Aktivist*innen, die mit Hilfe von Angehörigen und unabhängigen Journalist*innen versuchen, die selbstrecherchierten Fakten zu publizieren und mit einer Statistik zu dokumentieren. Die kubanische Regierung hingegen spielt die Gewalt im eigenen Land herunter.
Vorsichtiger Aktivismus. „Wir Feministinnen versuchen Zufluchtsorte für die Betroffenen zu schaffen, aber vor allem brauchen wir ein explizites Gesetz, das Frauen besser vor Gewalt schützt“, sagt Damarys. Sie ist überzeugt, dass viele der Gewalttaten gegen Frauen verübt werden, weil die Männer keine Konsequenzen zu fürchten hätten. Sie und ihre Genossinnen schreiben Briefe an die Regierung oder organisieren Gesprächsrunden. Doch Aktivismus wie anderswo ist in Kuba undenkbar.
Eine Demonstration anzumelden ist fast unmöglich, sogar eine Demo zum Weltfrauentag wurde nicht genehmigt. Politische Kampagnen und nichtstaatliche Organisationen, aber auch Treffen mit einer größeren Anzahl von Menschen sind in Kuba verboten. Doch Damarys glaubt dennoch an die Kraft des kubanischen Feminismus: „Es ist kein Kampf um Macht, Wirtschaft, Politik oder nur um Körper. Es geht um viel mehr: Feminismus ist alles. Wenn die Gesellschaft nicht bereit ist, Frauen zu akzeptieren, das Geschlecht, das alle zur Welt bringt, wenn sie dem keinen Wert geben kann, verliert das Leben selbst an Wert“, sagt Damarys.
„Das ist gelogen“. In einer Erdgeschosswohnung in einem Wohnviertel Havannas sitzen Beatriz und Alejandra auf einem bunt gemusterten Sofa. Die zwei Freundinnen heißen eigentlich anders, aber sie haben Angst vor Repressionen durch die kubanische Regierung und möchten lieber anonym bleiben.
„Laut der kubanischen Regierung ist hier alles perfekt. In Kuba passiere Frauen nichts Schlimmes, heißt es, doch das ist gelogen“, sagt Alejandra. Die beiden Freundinnen sind um die dreißig. Lange sei ihnen beiden nicht bewusst gewesen, wie viel Gewalt es gegen Frauen in Kuba gebe. „Das Internet und Smartphones waren für uns ein Tor zur Welt“, sagt Alejandra. „Früher hatten wir weniger Angst. Wir haben nicht mitbekommen, was passiert. Das war von der Politik bestimmt so gewollt“, stimmt Beatriz zu. Seit der kubanischen Revolution hat sich die Situation der Frauen durchaus verbessert, räumen sie ein. Vor der Revolution haben viele Frauen als Hausangestellte gearbeitet und hatten kein Recht auf Schulbildung. Heute besuchen sie Universitäten, üben sämtliche Berufe aus. Auch die Gehälter wurden angeglichen: Gleiche Arbeit, gleicher Lohn. Nach der Revolution wurden auch Schwangerschaftsabbrüche möglich, seit Mitte der 1960er sogar in staatlichen Krankenhäusern. Bereits 1960 wurde die Federación de Mujeres Cubanas gegründet, eine staatliche Organisation zur Gleichstellung und Emanzipierung der Kubanerinnen. „Aber ich sehe heute keine Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung“, kritisiert Beatriz.
Reformen. Zuletzt hat Präsident und Parteichef Miguel Díaz-Canel das kubanische Familiengesetz 2022 umfassend reformiert – als Reaktion auf den Druck feministischer und queerer Organisationen. Aber auch der Präsident selbst nannte die Reform einen überfälligen Schritt. Das neue Gesetz legalisierte nicht nur die gleichgeschlechtliche Ehe, auch Reformen beim Adoptionsrecht, die Legalisierung von Leihmutterschaft sowie künstlicher Befruchtung wurden umgesetzt. Den meisten Feministinnen reicht das jedoch längst nicht aus.
Für Beatriz und Alejandra kommt einiges zusammen: Die Gewalt gegen Frauen und Queers, aber auch die Krise, in der der Inselstaat steckt, seit sie sich erinnern können. Die Gehälter sind zu niedrig und reichen kaum für Miete und Essen. Oft leben sie von Tag zu Tag. Es fehlen Medikamente, die Regale in den Apotheken sind so leer wie die der Lebensmittelläden. „Ich habe keine Motivation mehr, in diesem Land etwas zu verändern und die Kraft aufzubringen, mich in einer feministischen Gruppe zu organisieren“, sagt Alejandra. „Ich konzentriere mich darauf, schnellstmöglich das Land zu verlassen.“
„Ich glaube dir.“ Beatriz hingegen ist in der Pandemie auf die feministische Gruppe „yo si te creo“ gestoßen. Auf Deutsch übersetzt heißt das: „Ja, ich glaube dir“. Die Aktivistinnen setzen sich gegen psychische, sexuelle, physische Gewalt gegen Frauen ein. Auch diese Art der feministischen Arbeit konnte erst durch den besseren Zugang zum Internet eine breitere Öffentlichkeit erreichen.
Außerdem ist einiges in Bewegung geraten: Das oppositionelle Onlinemagazin „El Estornudo“ hat zahlreiche Zeuginnenaussagen gegen Sänger und Parteimitglied Fernando Bécquer gesammelt. Der Vorwurf: sexueller Missbrauch. Wegen seines Status als Parteimitglied schien für viele eine Anzeige gegen Bécquer aussichtslos zu sein. „Ich war eine der Frauen, die ihn angezeigt haben“, sagt Beatriz. „Dieser Mann hat versucht, sich unter dem Mantel der Revolution und des Patriarchats zu verstecken, aber nicht mit uns.“ Den Schmerz darüber, was er ihr angetan hat, konnte die Anzeige nicht lindern. Aber es gebe ihre Hoffnung, dass sich Vergewaltiger in Zukunft nicht mehr in Sicherheit wiegen könnten. Bécquer wurde inzwischen zu fünf Jahren Haft verurteilt. •
Linda Peikert arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Feminismus, soziale Gerechtigkeit und Außenpolitik.