Der Twitter-Hashtag #frauenbeimarzt sorgte Anfang des Jahres für Aufruhr. Tatsächlich bringt er bloß einen Bruchteil der schlimmen Erfahrungen ans Licht, die viele bei ärztlichen Behandlungen machen. Wie organisieren sich Feminist*innen dagegen? Von Lea Dora Illmer
„Und die Medien bestimmen, wie ich ausseh. Und die Ärzte, sie bestimmen, wann ich draufgeh“, rappt Juju auf ihrem Debütalbum. So polemisch diese Zeilen auf den ersten Blick erscheinen mögen: Sie sind wohl zutreffender, als uns lieb ist.
Am 14. Januar 2022 postete die Twitter-Userin Joanalistin einen Aufruf: „Ich würde gerne sichtbar machen, welche sexualisierten oder erniedrigenden Erfahrungen Frauen bei ihren Arztbesuchen erlebt haben. #frauenbeimarzt“
Über 1.300 Menschen, größtenteils Frauen, kamen dem Aufruf nach. Sie berichteten von Fehldiagnosen und Verharmlosungen, von Grenzüberschreitungen und Übergriffen.
Sich durch die Tweets zu klicken, ist belastend. Sei es, weil sie wütend oder ohnmächtig machen, oder weil wir uns darin wiederfinden. Eine Patientin beschreibt starke Schmerzen im Bauch. Die Reaktion des Arztes: „Was wird das bei Frauen wohl sein? Leg dich halt ins Bett und nimm Schmerzmittel.“ Einige Tage später platzt ihr Blinddarm. Eine andere verspürt Schmerzen nach einer Darmspiegelung mit Adenom-Entfernung. Sie muss über 24 Stunden warten, bevor sie untersucht und ein Loch im Darm entdeckt wird. In ihrer Akte steht vermerkt: „Panikattacke, hysterisch“. Manche Erlebnisse sind subtiler: „Nicht hören. Indirekt belächeln. Eigentlich ignorieren. Sehr viel Mansplaining. Mir erklären, wie ich (meine Schmerzen oder Gefühle) zu fühlen habe“, erzählt eine Userin.
Forschungslücke. All diesen Fällen ist gemein, dass die Aussagen von Frauen über ihre Beschwerden und Gefühle nicht oder zu wenig ernst genommen werden. Der sogenannte „Gender Pain Gap“ benennt diese Tatsache. Die Schmerzen von Frauen werden in der westlichen Medizin von ärztlichen Fachpersonen heruntergespielt, nicht (ausreichend) behandelt, als unvermeidbarer Bestandteil des „Frauseins“ angesehen oder gar geleugnet. Das belegte bereits 2001 die Studie der University of Maryland „The Girl Who Cried Pain: A Bias Against Women in the Treatment of Pain“. Im Rahmen der sich seither ganz allmählich etablierenden Gender Medizin wird zum Umgang und der Behandlung von Schmerzen – auch in Bezug auf race und Klasse sowie mit intersektionalem Blickwinkel – geforscht. Rassismus in der Medizin ist im deutschsprachigen Raum erst seit wenigen Jahren ein gesellschaftliches Thema. Es fehlt jedoch auch hier an Zahlen, die Forschungslage ist dürftig. Aktivistische Initiativen, etwa das Bundesfachnetz Gesundheit und Rassismus oder Wir sind auch Wien leisten (über-)lebenswichtige Aufklärungs- und Netzwerkarbeit. Was #frauenbeimarzt klarmachen konnte: In der (ärztlichen) Praxis angekommen sind diese Erkenntnisse noch lange nicht.
Anzüglichkeiten & Übergriffe. Anzügliche Kommentare, fragwürdige Behandlungsmethoden und offenkundige Übergriffe – eine Vielzahl der Tweets berichten auch von sexueller Gewalt. Frauen und genderqueere Menschen, die nicht der Norm und dem Normkörper entsprechen, also nicht weiß, cis, hetero, able-bodied und dünn sind, sind dieser offensichtlich besonders ausgesetzt. Auch hier gilt: Es gibt dazu viel zu wenig Forschung. In Deutschland, Österreich und der Schweiz fehlt es bereits an Zahlen zu Lesbengesundheit. „Ganz ehrlich: Wir wissen noch nicht einmal, wie viele Lesben es in der Schweiz genau gibt“, konstatiert etwa Alessandra Widmer, die Leiterin der LOS (Lesbenorganisation Schweiz) auf an.schläge-Nachfrage. Die LOS wisse zwar, dass es bei der gesundheitlichen Versorgung von Lesben, bisexuellen und queeren Frauen große Probleme gibt, „aber erst 2021 wurden in der Schweiz überhaupt repräsentative Zahlen zur Gesundheit von LGBT-Personen erhoben.“ Die Tweets unter #frauenbeimarzt berichten auch von Fatshaming und Ableismus. Joanalistin schreibt dazu später: „Eine besonders perfide Kategorie ist der Missbrauch von Frauen mit Behinderungen, die mir ihre Erfahrungen nur via DM schrieben, weil so schrecklich.“
Victim Blaiming. Der Auslöser für Joanalistins Frage nach sexualisierten Erfahrungen bei Arztbesuchen war ein Fall aus Wien, bei dem ein Orthopäde nach einem sexuellen Übergriff auf die Patientin freigesprochen wurde. Eine Frage, die im Zuge von #frauenbeimarzt immer wieder auftaucht: Warum kam es nicht zur Anzeige? Auch die Österreichische Ärztekammer betont auf an.schläge-Nachfrage, dass in den vergangenen Jahren nur wenige Beschwerden wegen sexualisierten Übergriffen oder sexistischer Kommentare bekannt gemacht wurden: „Im Sinne eines optimalen und unbeschwerten Behandlungserlebnisses kann nur geraten werden, die entsprechenden Meldemöglichkeiten zu nutzen.“ Aber was, wenn dazu das Vertrauen fehlt?
Sophie Hansal, ab April Geschäftsleiterin und Koordinatorin des Netzwerks österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen, weist auf an.schläge-Anfrage darauf hin, dass es zahlreiche Gründe gäbe, keine Anzeige zu erstatten. „Patient*innen sind auf die Betreuung durch Ärzt*innen angewiesen – in so einer Situation der Abhängigkeit ist es schwer, sich zur Wehr zu setzen.“ Viele fühlten sich überfordert oder könnten die Situation
nicht gleich einschätzen. „Gerade im ländlichen Raum haben Frauen außerdem manchmal gar keine Auswahlmöglichkeiten in Bezug darauf, welche Kassenärzt*innen sie besuchen“, das gelte besonders für Fachärzt*innen. Die Frage nach der Anzeige geht Hansal zufolge deswegen am Thema vorbei und schiebe die Verantwortung wieder den Betroffenen zu.
Hilfe zur Selbsthilfe. Das Sammeln, Teilen und Sichtbarmachen von Erfahrungen ist eine bewährte feministische Praxis. „Initiativen wie #frauenbeimarzt dienten dazu, strukturelle Gewalt und Herrschaftsverhältnisse ans Licht zu bringen“, betont Sophie Hansal. „Solche Kampagnen können ganz wichtige Signale sein für Personen, die Übergriffe erlebt haben: Es ist nie zu spät über Gewalt oder Diskriminierungserfahrungen zu reden.“ Feministische Gesundheitsbewegungen weisen seit den 1970er-Jahren darauf hin, wie wichtig und bestärkend der Erfahrungsaustausch – damals noch vornehmlich unter Frauen – sein kann. Julia Bonn und Inga Zimprich von der Feministischen Gesundheitsrecherchegruppe (FGRG) sammeln seit 2015 Wissen aus der Gesundheitsbewegung in West-Berlin. In der sogenannten Frauengesundheitsbewegung entstanden auch die „Hilfe zur Selbsthilfe“, Selbsthilfegruppen und Selbstuntersuchungen. Ein Ziel davon war es, sich Wissen über den eigenen Körper anzueignen, um den ärztlichen Fachpersonen und Hierarchien weniger ausgeliefert zu sein.
„Schwein des Monats“. Erfahrungen wurden aber nicht nur ausgetauscht und gesammelt, sondern auch publiziert. So sollten schwer zugängliche Informationen verfügbar gemacht, Ärzt*innen empfohlen oder vor ihnen gewarnt werden. Das Feministische Frauengesundheitszentrum Berlin (FFGZ) führte beispielsweise eine Kartei, die Ärzt*innen listete, bei denen schlechte Erfahrungen gemacht wurden. In der Selbsthilfezeitschrift Clio, ebenfalls vom FFGZ herausgegeben, wurde in der Rubrik „Schwein des Monats“ jeweils ein übergriffiger oder sexistischer Arzt gekürt.
Das Selbsthilfebuch „Hexengeflüster“, das die Gründerinnen des FFGZ 1975 publizierten, thematisierte etwa „Verbrechen gegen Frauen in der Gynäkologie“. „Von Frauen ihre gynäkologische Geschichte zu hören, ist immer erschütternd und bringt die kalte Wut in uns hoch. (…) Wir sind entschlossen, mit allen Frauen, die sich dafür einsetzen wollen, Informationen über diese Mißbräuche zu sammeln“, ist darin zu lesen. Die Überlegungen von damals erinnern an jene, die Joanalistin zu ihrem Tweet veranlasst haben.
Die Frauengesundheitsbewegung setzte auf zwei Strategien: Das Publikmachen von Erfahrungen und das Teilen und Verbreiten von Wissen und Informationen – seien es Adressen, Kosten, Rechte, Wissen über unsere Körper. Aktivistische Initiativen wie Gynformation oder Queermed knüpfen daran an. Beide haben die händisch geführten Karteien der 70er dahingehend weiterentwickelt, dass nicht mehr bloß auf Sexismus gegen Frauen geachtet, sondern auch auf andere Diskriminierungskategorien und deren Verschränkungen eingegangen wird. Die Ausschlüsse von damals werden heute thematisiert. Was bleibt, ist der Fokus auf subjektive Erfahrungen und der immer noch revolutionäre Ansatz, diese ernst zu nehmen.
Radikal widerständig. Julia Bonn verweist auch auf „Advocacy“, eine aus der Gesundheitsbewegung in den USA stammenden Praxis. Beim Ärzt*innenbesuch setzt man auf eine Begleitperson. Julia erklärt: „Eine Person, die mich daran erinnert, Fragen zu stellen“, aber auch helfen kann bei diskriminierender Ansprache und Behandlung in der Ärzt*in-Patient*in-Situation. Im besten Fall könnten einige Übergriffe so verhindert werden.
Die widerständigen Praxen von damals erscheinen aus heutiger Sicht radikal. Ob öffentliches Denunzieren von Ärzt*innen oder Ratgeber wie „Wege zu Wissen und Wohlstand oder: Lieber krankfeiern als gesund schuften!“, die beim Simulieren von Krankheiten helfen sollten. Darin heißt es: „Gesundheit gibt es nicht in diesem System“. Angesichts von Initiativen wie #frauenbeimarzt, die tatsächlich nur einen Bruchteil von Erfahrungen sichtbar machen, wäre ein bisschen mehr Radikalität wohl wieder angebracht. •
Lea Dora Illmer studiert Philosophie und Gender Studies. Sie forscht in ihrer Masterarbeit zur sogenannten Frauengesundheitsbewegung in der Schweiz.