„Abbilden, Vorbilder schaffen, vorausdenken“: Die Filmreihe Framing Reality startet in Wien mit Werken von Regisseurinnen, die beim Sundance- Festival prämiert wurden. Von FIONA SARA SCHMIDT
Ein gutes Dutzend Arthouse-Filme, die beim bekanntesten US-amerikani- schen Independent-Festival Sundance ausgezeichnet wurden und es nicht
in die europäischen Kinos geschafft haben, sind nun in einem neuen Format in Wien zu erleben. Dabei geht es theoretisch um Gender, Inklusion und Diversity, praktisch um gut gemachtes und unterhaltsames Genrekino. Die Initiatorin ist keine Unbekannte: Seit 1994 verantwortet Barbara Reumüller das Wiener Queer-Filmfestival „identi- ties“. Framing Reality hat jedoch einen anderen Schwerpunkt und soll als regelmäßiges Format zum Selbstläufer mit eigenem Profil werden. Dazu setzt die Organisatorin auf ein Netzwerk aus Filmschaffenden und interessierten Zuschauer_innen. Wechselnde Kurator_innen sollen die Reihe mit offenen Strukturen gestalten, die im nächsten Jahr oder bei der nächsten Veranstaltung (auch außerhalb Wiens) schon ganz anders aussehen könnte. Queerness steht dabei thematisch nicht an erster Stelle, hat aber aufgrund der Vielzahl der filmisch verhandelten Identitäten im Programm durchaus ihren Platz.
„Frauenfilme“. Dass sich in den Programmen der großen europäischen Festivals wie in Cannes und Venedig selten herausragende Filme von Frauen finden, hält die Initiatorin nicht für Zufall. Es sei eine self-fulfilling prophecy, wenn immer wieder darauf hingewiesen werde, wie wenige Filme es von Frauen gebe. Es gibt sie nämlich durchaus, nur bekommen wir sie viel zu selten zu sehen, meint Reumüller: „Es ist eine Mär, die sich hartnäckig hält, dass Frauen ‚Frauenfilme’ machen oder keine Komödien könnten.“
Die nun eine Woche lang im Filmcasino stattfindende Reihe bietet starkes Genrekino aus Nordamerika. Die meisten Filme laufen in der Originalversion und werden erstmals in Österreich gezeigt. Zwei Regisseurinnen wurden überdies eingeladen, Lynn Shelton und Barbara Kopple werden in Wien erwartet. Lynn Shelton hat in nur zehn Jahren als Regisseurin eine rasante Entwicklung genommen. Ihre Initialzündung war die Erkenntnis, dass Claire Denis („Chocolat“, „Les Salauds“) erst mit über vierzig ihre Karriere als Regisseurin startete. Shelton prägte das Genre „Mumblecore“, das wegen des unverständlichen Genuschels der auf DIY-Ästhetik setzenden Filme so genannt wird und auf natürliche Sets, reale Drehorte und teils improvisierte Dialoge setzt. Inzwischen verfilmt sie mit Stars wie Keira Knightley auch Drehbücher, die sie nicht selbstgeschrieben hat, und realisierte Serienfolgen für „Mad Men“ und „New Girl“. 2009 wurde Shelton beim Sundance für den alternativen Buddy Movie „Humpday“ gefeiert. Shelton verzichtet trotz der klamaukigen Story (zwei heterosexuelle Freunde beschließen in einer Schnapslaune, für ein Festival gemeinsam einen schwulen Porno zu drehen) auf Schenkelklopfer und untersucht stattdessen die Lebenspläne der beiden Freunde. Allein die Szene, in der der brave Ehemann Ben seiner Frau erklärt, dass er als „Helfer“ bei „einem Kunstprojekt“ teilnehmen würde, lohnt den Gang ins Kino. Es folgten „Your Sister’s Sister“, eine intensive Schwesternbeziehung mit Dreiecksgeschichte und „Touchy Feely“, der – ohne dabei seine Figuren vorzuführen – das spirituelle Gehabe der Westküste aufs Korn nimmt (mit Ellen Page als Zahnarzthelferin!) und der mit tragischer Komik und eigenwilligen Figuren punktet.
Zeitgeschichte in Celluloid. Im Bereich Dokumentarfilm wird Barbara Kopple im Fokus stehen. Die zweifache Oscar-Preisträgerin ist für ihren essayistischen und unmittelbaren Stil bekannt. 1946 geboren, reiste sie in den 1970ern nach Kentucky, um einen Streik von Bergarbeitern filmisch zu begleiten, „Harlan County U.S.A.“ machte sie als Filmemacherin berühmt, 1990 war „American Dream“ über Arbeitskämpfe im Minnesota der Reagan-Ära ähnlich erfolgreich. Bei diesem Werksüberblick wird deutlich, dass wirtschaftliche Krisen im Zuge der fortschreitenden Globalisierung und der Finanzkrise zwar abstrakter geworden, ihre konkreten Auswirkungen auf die Menschen aber die gleichen geblieben sind. Ebenfalls politisch war der Auslöser zu „Shut up and Sing“ über die Country-Band The Dixie Chicks, den Kopple 2006 mit Cecilia Peck realisierte. Die erfolgreichste Frauenband der Vereinigten Staaten sorgte für einen Skandal, als die Leadsängerin sagte, sie schäme sich dafür, dass der damalige Präsident George W. Bush aus Texas stammt. Es folgten CD-Verbrennungen und Morddrohungen, die die Regisseurinnen aus nächster Nähe verfolgen konnten. „Running from Crazy“ ist Kopples neueste Arbeit, die sich mit großen Begabungen und psychischen Erkrankungen im Hemingway-Clan und dem Abarbeiten an der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzt. Mariel Hemingway, die Enkelin von Ernest, wurde sehr jung mit ihrer Rolle in Woody Allens „Manhattan“ berühmt – und kämpft immer wieder gegen Depressionen. Mit Kopples Dokumentation „Wild Man Blues“ über den umstrittenen Regisseur auf Konzerttournee durch Europa schließt sich der Kreis.
Plattform und Netzwerk. Der Markt ist enger geworden, beobachtet Reumüller. Es werden zwar immer mehr Filme produziert, doch immer weniger davon schaffen es ins Kino. Nachdem Frauen auch hinter der Kamera weiterhin deutlich unterrepräsentiert sind, sind sie davon besonders betroffen. Ein feministischer Schwerpunkt ergibt sich aufgrund der Auswahl der Regisseurinnen von selbst, auf das Label „Feminismus“ verzichtet „Framing Reality“ einfach. Die Reihe setzt stattdessen auf die Kraft der Filme und ihre Themen, wobei Produktionsbedingungen stets mitreflektiert würden. Das Ziel ist es, relevante Filme hierzulande auf die Leinwand zu bringen. Mit filmischem Können und cineastischem Wissen könnten gesellschaftliche Phäno- mene exemplarisch verhandelt, soziale Zusammenhänge greifbar gemacht und politische Utopien entworfen werden. Denn das könne die Kunstform Kino besonders gut: „Abbilden, Vorbilder schaffen, vorausdenken“.
Sundance als Klammer bot sich für Reumüller aus einer persönlichen Verbundenheit mit dem Festival und den USA an. Zwar ist Sundance ein Festival für unabhängige Produktionen und Neuentdeckungen, es handelt sich dabei aber keineswegs um Nischenfilme. Sundance hat enorme mediale Präsenz und die amerikanische Filmindustrie verfügt über vollkommen andere Budgets als in Europa bei Indie-Filmen üblich.
Ein Beispiel ist „Concussion“ von Stacie Passon: Protagonistin Abby (Robin Weigert) ist Mitte vierzig, hat eine Frau, zwei Kinder und ein Häuschen im Vorort. Sie beginnt unter dem Namen Eleanor, wie einst Catherine Deneuve in Buñuels „Belle de Jour“, als Prostituierte für Frauen zu arbeiten. Doch die beiden Leben ihrer Doppelexistenz lassen sich nicht so einfach trennen wie gedacht.
Mit „Middle of Nowhere“ von Ava DuVernay mischt sich auch ein ruhiges afroamerikanisches Emanzipationsdrama mit starken Bildern in das Programm. Eine unbekannte Branche porträtiert Lake Bells Screwball-Komödie „In a World …“: das Einsprechen von Kino-Trailern. Bell vereint dabei Drehbuchautorin, Regisseurin und Hauptfigur, die als Sprecherin in die Fußstapfen ihres erfolgreichen Vaters tritt und sich in der Männerdomäne Voice-Over behauptet.