Zwischen viel Theorie und Anklage bietet die diesjährige Biennale auch Raum für sinnliche Momente, durfte INA FREUDENSCHUß in Venedig erfahren.
Die Ausstellung soll eine Einladung sein, über „Trümmer“ und „Überreste“ nachzudenken. Klingt nicht besonders verlockend? Das kann im Fall der Biennale ganz schön aufregend und fordernd sein. Chef-Kurator Okwui Enwezor hatte den Wunsch, die Besucher_innen mit der „Lage der Dinge“ zu konfrontieren – und diese ist bekanntlich höchst besorgniserregend. Klimakatastrophen, Armut, ökonomische Krisen und Kriege lassen althergebrachte Narrative immer bröseliger werden.
„All the world’s futures“, so der Titel der Schau, reflektiert diese Themen und versammelt zu diesem Zweck zahlreiche „post-westliche“ Positionen. Noch nie waren so viele Künstler_innen auf der Biennale vertreten, die an den sogenannten Rändern zu Hause waren oder es immer noch sind. Große strukturelle Fragen wie Armut, Arbeit, Rassismus, Sexismus und Umweltverhältnisse werden dabei nicht mehr als Randthemen bearbeitet, sondern sind bei vielen Arbeiten Ausgangspunkt der Reflexion.
Mythen und Machtsymbolik. Die gebürtige Kenianerin Wangechi Mutu lässt in ihrer Videoarbeit „The End of Carrying it All“ eine Feldarbeiterin Früchte auf ihren Kopfkorb legen, bis aus dem Korb eine Bohrinsel geworden ist. Ästhetisch vermischt sie dabei Elemente der Science Fiction mit alter Mythologie. Die dazu passende Skulptur mit dem Titel „She’s got the whole world in her“ zeigt eine Schwarze nackte Frau, die sich aus einem Drahtkäfig zwängt und damit eine Welt hinter sich lässt, die von postimperialen und auch feministischen Zeichen determiniert ist.
Im Arsenal, wo Sammeln und Archivieren generell als starkes Motiv vieler Arbeiten auszumachen ist, befindet sich das Research-Projekt „subject: what women want“ von Petra Bauer. Die Schwedin hat die Ursprünge der sozialistischen schwedischen Frauenbewegung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erforscht und zeigt in der Installation „a morning breeze“ historische Flugblätter, Fotos von Frauengruppen und Auszüge aus der ersten schwedischen Frauenzeitschrift. Tatsächlich mutet die Arbeit eher wie ein kleines Zeitgeschichte-Museum an denn als eine Kunstinstallation. Trotzdem eignet sie sich dafür, die damaligen Forderungen auf heutige Verhältnisse zu übertragen und nach ihrem Realisierungspotenzial zu fragen.
Ebenfalls im Arsenal zeigt die feministische Installationskünstlerin Monica Bonvicini eine völlig neue Arbeit: Sie lässt in Beton und schwarzen Gummi getauchte Kettensägen von den Wänden baumeln und eignet sich damit einmal mehr männlich konnotierte Machtsymbole an.
Duftende Blubberblasen. In den Länderpavillons, die sich zum Teil genusswandelnd in den Giardini erreichen lassen, befinden sich auch einige interessante weibliche Positionen. So hat die Amerikanerin Camille Norment den schon rein architektonisch beeindruckenden nordischen Pavillon mit ihrer Sound-Installation „Rapture“ in ein Selbsterfahrungsexperiment verwandelt, das alle Sinne berührt. Die Glasharmonika, ein historisches Instrument, generiert ihren Sound aus Wasser und Glas und stand anno dazumal im Verdacht, bei Frauen Ekstase und sexuelle Erregung zu provozieren. Für „Rapture“ hat die Künstlerin ein neues Stück auf ebendiesem Instrument komponiert. Sie lässt damit die Besucher_innen an den verführerischen Klängen des lange Zeit verpönten Instruments teilhaben.
Ein Hot-Spot ist auch der Schweizer Pavillon, in dem die junge Schweizer Künstlerin Pamela Rosenkranz mit den biochemischen Grundlagen unserer technologisch aufgerüsteten Konsumwelt experimentiert. Im Zentrum ihrer Arbeit steht ein Becken mit rosafarbener Flüssigkeit, die seltsam riecht und sanft vor sich hinblubbert. Wesentliches Detail: Die Farbe entspricht dem standardisierten Hautton, der aktuell als weiße Hautfarbe in der Werbung verwendet wird. Den Pavillon durchweht angeblich ein synthetisch hergestellter Babyduft, der aber zumindest dieser Rezensentin nicht in den Sinn kam.

Fahrende Bäume. Im schwedischen Pavillon zeigt Lina Selander eine beeindruckende historische Arbeit. Darin kombiniert sie deutsche Geldscheine aus den frühen 1920er-Jahren mit poetischen Filminstallationen, die erzählen, wie aus Mnemosyne, der griechischen Göttin der Erinnerung, in Rom die Göttin Moneta wurde – und damit die Erinnerung vom Geld verdrängt wurde. Eine kluge Arbeit mit und durch Assoziationsketten.
Im Gegenteil von subtil schwelgt hingegen Sarah Lucas im britischen Pavillon. Dieser leuchtet schon von Weitem hellgelb (ein Verweis auf die süße „Englische Creme“) und auch innen soll die Farbe für „gute Laune“ (Zitat Pressetext) sorgen. Im Ausstellungsraum hat Lucas unter anderem weiße Frauentorsos aufgestellt, deren Körperöffnungen zuweilen Zigaretten zieren. Bei so viel Ironie qualmt die Möse … oder so ähnlich. In den sozialen Medien war der creme-und-baiser- farbene Pavillon jedenfalls sehr beliebt. Definitiv einen Besuch wert ist der französische Pavillon von Céleste Boursier-Mougenot direkt nebenan. Darin fahren zwei originalgroße Bäume inklusive Wurzelstamm den Steinboden entlang und surren dabei leise vor sich hin. Die Zuseher_innen können sich auf überdimensionierten Schaumsofas ausstrecken und vom kühlen Schatten aus das Schauspiel der Pflanzen-Maschinen-Hybride auf sich wirken lassen.
Verblüffende Effekte liefert auch der kanadische Pavillon mit der Arbeit „Canadissimo“. Das Künstlerkollektiv BGL hat ein Gebäude aus Recycling-Materialien errichtet, das die Besucher_innen durchwandern können. Die Tour startet mit einem Tante-Emma-Laden, in dem bei genauem Hinsehen die Waren vor dem eigenen Auge verschwimmen. Ein weiterer Raum ist überfüllt mit übergelaufenen Farbdosen und sonstigen Objekten. Ganz oben auf der Terrasse kann frau Kleingeld über eine Kugelbahn laufen lassen und sich in einem Wandbild verewigen. Die Arbeit ist ein skurriles Haus aus Recycling-Materialien geworden, das Waren und die dahintersteckende Produktivität Kopf stehen lässt.
Das Besondere an der diesjährigen Biennale ist ihr prozesshafter Charakter. Das Kuratorium legt einen großen Schwerpunkt auf Performance, Gesang und Theater, der sich über die gesamte Laufzeit bis 22. November erstreckt. Zentrum dieser Aktivitäten ist die „Arena“, eine Bühne im Hauptpavillon in den Giardini. Dort finden kontinuierlich Live-Performances statt, so zum Beispiel eine dreistündige Lesung von Karl Marx „Das Kapital“. Doch abgesehen davon gibt es hier auch wahre Geheimtipps zu entdecken: den Komponisten Julius Eastman zum Beispiel, der seinen drängenden Klavierstücken so poppige Titel wie „Gay Guerilla“ gab. Und weil die Zeit sowieso nicht reichen wird, um alles zu sehen, sei abschließend geraten, sich am besten einfach durch die Gärten treiben zu lassen.
Ina Freudenschuß ist als leidenschaftliche Hobby-Kunstrezipientin schon wieder bereit für eine zweite Runde Biennale.