Die europäische Migrationspolitik steht immer mehr im Zeichen der Abschottung. Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger im Gespräch über Zäune, das paradoxe europäische Asylsystem und Geflüchtete, die keine sein wollen. Von Kathrin Reisinger
an.schläge: Beim EU-Migrationsgipfel im Februar standen Abschottung und Rückführung auf der Tagesordnung, Österreich forderte Zäune an den EU-Außengrenzen. Die Rufe nach Fortifizierungen von Grenzen werden in Europa seit Jahren immer lauter. Warum ist das der falsche Ansatz?
Judith Kohlenberger: Wenn ich einen reißenden Fluss aufstaue, dann weiß jeder Mensch: Das geht eine kurze Zeit gut, aber irgendwann tritt das Wasser übers Ufer oder sucht sich einen anderen Weg. So ähnlich ist das auch bei Grenzbefestigungen, denn der Migrationsdruck und die Fluchtursachen dahinter verschwinden ja nicht.
Es werden also andere Routen gewählt?
Ja, und das sind häufig noch gefährlichere. Dreizehn Prozent der gesamten EU-Außengrenze sind schon mit Zäunen oder ähnlicher Infrastruktur fortifiziert. Das ist also überhaupt nicht neu. Das vermeintliche Tabu ist längst gebrochen. Mit den Zäunen sind aber auch die Überfahrten übers Mittelmeer gestiegen. Das Mittelmeer ist seit langem die tödlichste Grenze der Welt. Wir wissen außerdem, dass durch Zäune aber erst recht das Schlepperwesen befeuert wird. Denn wenn der Grenzübertritt schwieriger wird, muss ich auf die Hilfe von Profis zurückgreifen. Diese wiederum können noch mehr Geld verlangen. Es ist also überhaupt nicht zu Ende gedacht.
Sie kritisieren, dass einzelne EU-Staaten wie Polen und Griechenland für ihren menschenrechtswidrigen Umgang mit flüchtenden Menschen keine Sanktionen fürchten müssen. An welche Sanktionen denken Sie?
Es braucht Sanktionen, und zwar Vertragsverletzungsverfahren. In Ungarn ist das Asylrecht außer Kraft gesetzt und man tut nichts. Und zwar aus strategischen Überlegungen heraus. Die Union will nicht das bisschen Einigkeit, das es unter den EU 27 noch gibt, aufs Spiel setzen. Das Einstimmigkeitsprinzip in Sicherheitsfragen ist ein Konstruktionsfehler der EU und macht sie behäbig, auch in der Antwort auf Krisen. Es bleibt immer nur der kleinste gemeinsame Nenner übrig – und der ist derzeit der Außengrenzschutz. Das hat der Migrationsgipfel wieder einmal deutlich gezeigt. Themen wie die innereuropäische Verteilung, ein gemeinsames Asylverfahren oder die vielen Rechtsbrüche in Form von illegalen Pushbacks kamen dort nicht vor. Ich glaube, das hat man bewusst ausgespart.
Die EU muss sich also die Frage stellen, wie glaubhaft sie noch ist. Man kann nicht Grundrechte für die einen abstellen, während sie für die anderen weiterhin gelten. Dass das gefährlich ist, zeigt uns das Beispiel Ungarn. Es fängt bei marginalisierten Gruppen an und setzt sich sukzessive fort. Auch Polen hat eine Rechtsstaatlichkeitskrise – nicht nur, was Geflüchtete betrifft.
Irgendwann kann sich das System nicht mehr halten, weil es diese Widersprüche nicht mehr vereinen kann. Hoffnung setze ich aktuell vor allem in wirtschaftliche Argumente. Viele haben erkannt, dass es legale Migration für den Arbeitsmarkt braucht. Das kann man natürlich auch kritisch sehen, etwa durch Gefahr des Lohndumpings. Aber zumindest auf dieser Ebene ist die reine Abschottung keine Option.
Flüchtende werden vor allem von rechten Parteien politisch instrumentalisiert. Eine Strategie, die bei Wahlen oft aufgeht. Wie ließe sich das verhindern?
Wortkreationen wie „Weaponization“ verschleiern, dass es hier um Menschen geht, die instrumentalisiert werden. Im belarussischen-polnischen Grenzgebiet sind Kleinkinder ums Leben gekommen, die in dieser Pattstellung gefangen waren. Dabei gäbe es eine relativ einfache Lösung. Und zwar, indem man Erpressungsversuche ins Leere laufen lässt und die paar dutzend Schutzsuchenden aufnimmt. Damit Erpressung funktioniert, muss es immer eine Seite geben, die sich erpressen lässt. Leider hat der Migrationsgipfel noch stärker das Bild nach außen getragen, dass es im Grunde nichts gibt, wovor sich Europa mehr fürchtet, als vor der Ankunft Schutzsuchender. Gleichzeitig schließt man weiterhin Abkommen mit Drittstaaten, denen man genau diesen Hebel für Erpressungsversuche in die Hand gibt, indem man Menschen dorthin auslagert.
Nicht nur auf europäischer Ebene, auch in Österreich brauchen manche politische Akteur*innen Flüchtende offensichtlich als Sündenböcke. Niederösterreich hat zuletzt gezeigt, dass sich mit dem Thema Wahlen gewinnen lassen. Immer noch.
Wie deuten Sie die unterschiedlichen Bewertungen von Flüchtenden? Ist das auch ein strategischer Rassismus?
Strategischer Rassismus ist eine gute Beschreibung für das, was in Österreich häufig passiert. Selbst ein Waldhäusl-Sager punktet wohl bei der Kernwählerschaft und schlägt in die Kerbe „Das wird man ja noch sagen dürfen“. Als Fluchtforscherin fand ich es auffällig, dass viele Ukrainer*innen, mit denen ich im Zuge einer Studie gesprochen habe, sagten: „We are not refugees.“ Das Label Flüchtling weisen manche deutlich von sich. Weil es eben so negativ aufgeladen ist. Da gäbe es die Möglichkeit zur Solidarität, aber die wird nicht von allen ergriffen.
Generell aber gilt: Ein Flüchtling muss kein guter Mensch sein. Der kann in sich viele Vorurteile tragen, das ändert nichts daran, dass er ein verbrieftes Recht darauf hat, einen Asylantrag zu stellen. Da geht es um Rechte, nicht um Almosen. Der Anlass für den letzten EU-Gipfel waren 330.000 sogenannter „Irregular Border Crossings“, die Frontex erhoben hat. Zugleich gibt es sieben Millionen geflüchtete Ukrainer*innen, die irgendwie alle in der EU untergebracht werden konnten. Auch in Ländern, die wenig Kapazitäten dafür hatten. Das Argument „Das Boot ist voll“ gilt also nicht. Genauso wenig, wie die Aufnahmebereitschaft auf Frauen und Kinder zu beschränken. Es ist natürlich wichtig, den besonderen Schutzbedarf von Frauen auf der Flucht wahrzunehmen, aber wenn man all das subtrahiert, bleibt nicht viel mehr übrig als purer Rassismus.
Welche Rolle spielt der Umgang mit Migration und mit Geflüchteten auch für die Machterhaltung eines patriarchalen Systems?
Die Integrationsarbeit wurde immer vorrangig von Frauen gemacht. Da sind einerseits die Frauen der Aufnahmegesellschaft. Die Menschen, die sich dort engagieren, sind Frauen aller Altersgruppen. Bei den Ankommenden sind es auch die Frauen – da muss man Susanne Raab recht geben –, die Multiplikatorinnen-Arbeit leisten. Wir reden aber nur über „den Flüchtling“, den jungen Mann, außer es geht ums Kopftuch, also wieder einmal um den Körper von Frauen. Und traditionellerweise reden vor allem Männer in Anzügen über Migration und Integration. Ich habe lange Zeit zu europäischer Migrationspolitik, die ja vor allem Grenzpolitik ist, viel weniger Medienanfragen bekommen als zu den „soften“ Integrationsthemen – obwohl sich mein Buch ersterem widmet. Dieses Missverhältnis im Migrations- und Integrationskomplex ist natürlich dem Patriarchat geschuldet. •
Kathrin Reisinger wünscht sich, dass Expertinnen mehr Gehör geschenkt wird. Um einen Umgang mit Fluchtbewegungen zu finden, der Wege ebnet für eine offene und zuversichtliche europäische Gemeinschaft aller Menschen, die hier leben.