Geschlechterkonzeptionen in queer_feministischer Science Fiction. Von DAGMAR FINK
Science Fiction (SF) ist ein spekulatives Genre. In der SF wird folglich nicht geschildert, was ist oder sein wird, es geht vielmehr um die Frage „Was wäre wenn …?“. Um eine alternative Gegenwart oder Zukunft zu entwerfen, bedienen sich die Autor*innen einer Sprache und Konventionen, die dem Genre eigen sind – SF-Leser*innen wundern sich zum Beispiel nicht, wenn außergewöhnliche Wesen durch die Stadt flanieren und dabei mit Passant*innen in unbekannten Zungen parlieren. Der Maßstab, an dem Plausibilität gemessen wird, leitet sich nicht nur aus der Beobachtung des Lebens, so wie es ist oder war, ab, sondern auch von den Wissenschaften –von der Astronomie bis hin zur Soziologie, der Ethnologie bis hin zur Mathematik. SF ist also auch eine spezifische Lese-und Schreibpraktik. Und, wie die Autor*in und Literaturwissenschaftler*in Joanna Russ (1975) herausstellt, SF ist didaktisch. Denn in der SF geht es darum, Phänomene und Konzepte zu durchdenken und im wahrsten Sinne des Wortes durchzubuchstabieren.
Leerstellen der Zukunft. Grundlage der Spekulationen sind zumeist technologische Entwicklungen und deren (mögliche) Effekte auf gesellschaftliche Verhältnisse bzw. das Zusammenspiel technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Derart ausgestattet kann Science Fiction potenziell Bereiche vorstellen, in denen gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Veränderungen stattfinden können.
Und tatsächlich sind im Genre zahlreiche fesselnde und aufschlussreiche Betrachtungen möglicher Effekte technologischer Entwicklungen zu finden. Im Malestream der SF bleiben die Spekulationen über Geschlechter, Sexualitäten, soziale Beziehungen und generative wie gesellschaftliche Reproduktion jedoch weit hinter den Spekulationen über Technologieentwicklungen zurück. So stellt Russ heraus, dass in Bezug auf Geschlechterverhältnisse zumeist intergalaktische Vororte oder aber eine idealisierte und vereinfachte Vergangenheit beschrieben werden, in der feudale Strukturen mit Geschichten über richtige Kerle und deren kosmische Rivalitäten und Eroberungen garniert werden. Interessanterweise,
so Russ, lassen diese Erzählungen die persönlichen und erotischen Beziehungen der Charaktere aus, ebenso wenig wird beschrieben, wie und von wem Kinder groß gezogen werden. Damit stellen sich diese Erzählungen gerade nicht dem Problem, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der Geschlecht keine oder eine andere Rolle spielt:„Das ist die ganze Schwierigkeit der Science Fiction, der echten Kreativität: wie entkommt man den traditionellen Gegebenheiten, die nicht mehr sind als traditionelle Zwangsjacken“, schreibt Russ über das Frauenbild in der SF.
Cyborg-Monster. „Die Cyborg-Monster der feministischen Science Fiction definieren politische Möglichkeiten und Grenzen, die sich stark von den profanen Fiktionen ‚Mann‘ und ‚Frau‘ unterscheiden“ (Haraway, „Manifest für Cyborgs“). In der feministischen SF hingegen werden hegemoniale Geschlechterordnungen bereits seit den späten 1960er-Jahren problematisiert. Das Genre stellt hier ein Experimentierfeld dar, das es ermöglicht, eher abstrakte Geschlechterkonzeptionen in eine fiktive Realität umzusetzen. Es lässt sich hier buchstäblich auskundschaften, wie alternative Geschlechter im Alltag gefühlt und gelebt werden. Und in der Leseerfahrung können sich diese fiktiven Bilder und Erzählungen – anders als theoretische – zu einer imaginären Ressource entwickeln. Technologische Entwicklungen spielen auch hier häufig eine wichtige Rolle, so waren und sind gerade für queer_feministische Spekulationen die Gen- und Reproduktionstechnologien sowie deren gesellschaftliche Regulierung von großem Interesse, haben sie doch Einfluss darauf, wer, wann, in welchen Konstellationen, wie Kinder bekommen kann bzw. darf. Während viele Explorationen der Siebzigerjahre Technologieentwicklungen für Frauen* als Chance betrachteten, wurden die Betrachtungen in den 1980er-Jahren deutlich pessimistischer. Spätestens seit Donna Haraways einflussreichem „Manifest für Cyborgs“ (vgl. S. 16) jedoch geht es darum, die Möglichkeiten wie auch die Grenzen und Risiken technologischer Entwicklungen präzise für unterschiedlichen Subjekte oder Gruppen auszuloten.
Alternative Geschlechter. Zentraler Gegenstand feministischer SF ist die Erkundung möglicher Existenzweisen, insbesondere hinsichtlich Geschlecht, Sexualität und Rassisierung. Untersucht wird, wie Alternativen zu Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität, zu weißer Norm und Othering aussehen könnten. Hierfür wurden verschiedene narrative Strategien entwickelt, etwa Geschlechter beispielsweise so umgeschrieben, dass sie nicht der Norm entsprechen. Dabei geht es vor allem darum, die eigene Vorstellungskraft aus den Fesseln von Geschlechterstereotypen zu befreien. So schuf Russ bereits 1968 die Agentin und Mörderin Alyx, die klug, intelligent, hart, abgebrüht, sinnlich und definitiv nicht hübsch ist.
Oder es werden alternative Geschlechter erfunden bzw. andere Figuren, wie Vampir*innen, hermaphroditische Spezies, Aliens und seit den frühen 1990ern Cyborgs, die nicht unserem irdischen Vorstellungsvermögen unterworfen sind. Queere und/oder feministische Vampir*innen werden bezeichnenderweise vorwiegend von Autor*innen entworfen, denen die Darstellung Schwarzer oder anderer nicht-weißer Figuren am Herzen liegt – wie z.B. von Jewelle Gomez in „The Gilda Stories“ (1991) oder von Octavia Butler in „Fledgling“ (2005) – und/oder denen es explizit auch um eine queere Erotik und Sexualität geht, wie Patrick Califia in „Mortal Companion“ (2004). Auch Aliens werden vorzugsweise von Autor*innen gestaltet, die explizit Fragen der Rassisierung beleuchten.
So konzipierte die wohl prominenteste Schwarze SF-Autor*in Octavia Butler in der „Xenogenesis“-Serie die Oankali und brachte damit nicht nur eine dreigeschlechtliche Spezies hervor, sondern darüber hinaus auch unsere Vorstellungen von Sexualität und Intimität ordentlich durcheinander. Das Potenzial von Cyborgs hingegen wird zumeist von weißen Autor*innen ausgelotet, wie von Marge Piercy in dem fabelhaften „Er, Sie und Es“(1991) oder von Amy Thompson in „Virtual Girl“ (1993).
Eine weitere Strategie ist die Darstellung von Androgynie bzw. Welten oder Universen, die vermeintlich nicht nach Geschlechtern unterscheiden (viel diskutiert: Marge Piercys „Woman on the Edge of Time“). Diese Strategie war insbesondere in den Anfängen queer_ feministischer SF populär, wird aber auch heute noch verfolgt.
Wider die Zweigeschlechtlichkeit. Ebenfalls seit Anbeginn werden separatistische Welten beschrieben, also Welten, in denen es entweder nur ein Geschlecht gibt, oder in denen die Geschlechter getrennt leben. Auf diese Weise kann das Potenzial eines Geschlechts jenseits der Geschlechteropposition erkundet und den Unterschieden innerhalb eines Geschlechts nachgegangen werden. Wenn wir Teresa de Lauretis‘ Analyse folgen, dass Geschlecht vor allem eine relationale Kategorie ist, Geschlecht also ein Verhältnis zwischen einer Entität und anderen, z.B. einer Frau* mit anderen Frauen*, herstellt und so Unterschiede innerhalb eines Geschlechts unsichtbar macht, dann ist dies eine eminent wichtige Strategie.
Und schließlich werden gerade in queeren Entwürfen Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität defamiliarisiert, indem sie alternativen Welten und deren Geschlechter- und Sexualitätskonzeptionen gegenübergestellt werden. Ein m.E. herausragendes Werk ist hier Melissa Scotts „Shadow Man“, in dem eine Welt, die – wie wir auch – gegen besseres Wissen nur zwei Geschlechter und eine Form der Sexualität als legal und legitim anerkennt, mit einer Welt konfrontiert ist, die fünf Geschlechter und neun Sexualitäten als „normal“ betrachtet und für die sowohl ein Insistieren auf zwei Geschlechtern wie auch auf Heterosexualität als einzig „normaler“ Sexualität eine Perversion darstellt. Autor*innen wie Scott arbeiten darüber hinaus an der Sprache, um alternative Geschlechter auch auf dieser Ebene angemessen zu repräsentieren: Sie erfinden neue Begriffe sowie einheitliche oder alternative Pronomina, um auf einer sprachlichen Ebene nicht wieder in eine Zweigeschlechterordnung zurückzufallen.
Imaginäre Ressource. Die Bedeutung queer_feministischer SF liegt darin, dass es nicht nur ein Vergnügen ist, diese alternativen Entwürfe beim Lesen zu durchleben und durchdenken. Queer_feministische SF ist vor allem eine imaginäre Ressource, die die Gelegenheit bietet, das Spektrum dessen, was wir uns bezüglich Geschlecht, Sexualität und Rassisierung überhaupt vorstellen können, entschieden zu erweitern. Queer_feministische SF ist nicht nur ein Experimentierfeld, das theoretische Konzepte in nachvollziehbare, in der Leseerfahrung erlebbare Entwürfe transformiert. Queer_feministische SF schafft auch neue Konzeptionen von Geschlecht, Sexualität und Rassisierung.
Dagmar Fink ist Literatur- und Kulturwissenschafter*in. Mit (insbesondere Cyborgs in der) SF beschäftigt sie sich seit nunmehr zwanzig Jahren immer wieder mit großer Begeisterung, ihre zweite theoretische Leidenschaft gilt queeren Weiblichkeiten.
1 Kommentar zu „Einfach überirdisch“
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