Ostdeutsche werden migrantisiert, sagt Naika Foroutan. Warum die deutsche Willkommenskultur so kurzlebig war und wieso die Sozialwissenschaftlerin auch in der postmigrantischen Gesellschaft am Begriff Integration festhält, hat sie Lea Susemichel erklärt.
an.schläge: Fünf Jahre ist der sogenannte „Sommer der Migration“ 2015 her, doch von der Solidarität und der „Willkommenskultur“ schien schon nach der Kölner Silvesternacht nur noch wenig übrig zu sein. Inzwischen lässt man die Menschen an den EU-Außengrenzen wieder ungerührt sterben. Wie erklären Sie diese Entwicklung?
Naika Foroutan: Angela Merkel hat 2015 tatsächlich etwas getan, was die wenigsten erwartet hätten, und damit das Bild Deutschlands in der Welt nachhaltig verändert. Man hat sich für eine kurze Weile sehr wohlgefühlt mit diesem neuen Image des Willkommensdeutschlands, das ich gar nicht kleinreden will, weil es tatsächlich sehr wirkmächtig war. Es ist ja erst einmal egal, aus welchen Motiven die Leute helfen: Es ist anzuerkennen, dass sie helfen. Wir haben damals Zahlen erhoben und gehen davon aus, dass jede zweite Person sich seit 2015 in irgendeiner Weise engagiert hat für Geflüchtete.
Aber auch Pegida und die AfD waren damals schon da. Es wird ja oft behauptet, dass der Rechtspopulismus erst wegen dieser sogenannten „Flüchtlingskrise“ so einen Aufwind erfahren hätte. Aber Pegida hat schon im Dezember 2014 in Dresden Weihnachtslieder gesungen.
Sarrazin gab es ja auch schon lange vorher.
Genau. Es gab eine Prädisposition für Migrationsfeindlichkeit, und die hat sich mit der Kölner Silvesternacht nur noch manifester begründbar gemacht. Denn de facto hielt die Willkommenskultur gerade mal zwei Monate, im August und September. Ab Oktober 2015 gab es schon die Debatten über die „Teddybär-Werfer“ und die Naivlinge, die einfach Flüchtlinge reinlassen. Die antimuslimische Feindseligkeit war dann ganz schnell wieder sichtbar und ist in den Folgejahren auch trotz sinkender Asylanträge nicht zurückgegangen. Die AfD hat sich in Deutschland bei stabilen 15 Prozent eingerichtet. Erst mit Corona wurde das Migrationsthema verdrängt, und die AfD ist auf zehn Prozent abgesackt. Aber mit dem Thema ist zugleich auch das Interesse an Migrationspolitik verdrängt worden, was man ja nach der Katastrophe in Moria deutlich gesehen hat. Es ist an Zynismus nicht zu überbieten, dass man nur fünfzig Kinder nach Deutschland holt und sich dafür auch noch feiern lässt.
Deutschland ist ein Einwanderungsland mit einer sehr heterogenen Bevölkerung, die zu einem Viertel eine Migrationsgeschichte hat. Doch auch wenn diese Menschen zu einem Großteil die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, werden sie weiterhin oft als MigrantInnen oder gar AusländerInnen kategorisiert. Wieso lässt sich dieses nationale Selbstverständnis so schwer ändern, wieso wird deutsche Identität angesichts dieser Realität nicht längst hybrider und heterogener gedacht?
Deutschland ist migrationspolitisch sehr dynamisch: Mit 13 Millionen MigrantInnen der ersten Generation steht es als Einwanderungsland weltweit an zweiter Stelle, gleich hinter den USA. Auch bei der Aufnahme von Geflüchteten ist Deutschland in absoluten Zahlen weltweit innerhalb der Top Five. Aber die Vorstellung nationaler Identität verändert sich nicht so schnell wie die Migrationspolitik. Diese Identität lässt sich ja auf zwei Arten erzählen: entweder rekonstruktiv, also auf die Vergangenheit gerichtet, oder als etwas Normatives, nach vorne gewandtes – so, wie etwa die USA ihre nationale Identität als „Land Of Freedom“ auch als Zukunftsversprechen entworfen haben. In Deutschland hingegen spielt die Vergangenheit eine große Rolle.
26 Prozent der deutschen Bevölkerung und sogar vierzig Prozent aller SchülerInnen haben einen sogenannten „Migrationshintergrund“. Dennoch musste man bis 2001 von deutschen Eltern geboren sein, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen. Es gibt Veränderung, aber eine neue Erzählung nationaler Identität muss eben erst ausgehandelt werden, teilweise sehr konflikthaft. Doch inzwischen klinken sich auch Migrantinnen und Migranten in den Diskurs ein, ich zitiere hier nur als ein Beispiel das Buch von Ferda Ataman mit dem Titel „Ich bin von hier. Hört auf zu fragen!“.
Sie definieren Integration nicht als Assimilationsleistung, sondern als Bringschuld der aufnehmenden Instanz, um Chancengleichheit für alle zu gewährleisten. Integriert werden müssen in der postmigrantischen Gesellschaft Ihrer Meinung nach zudem nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, sondern alle, die strukturelle Diskriminierung erfahren, also z. B. auch Armutsbetroffene. Warum halten Sie dafür am Konzept Integration fest?
Trotz der berechtigten Kritik am Begriff Integration kämpfe ich für dieses Wort, weil es erlaubt, auch symbolische Ungleichheit und Nichtzugehörigkeit, auch kulturelle und emotionale Veränderungen zu adressieren. Bei Integration geht es um Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe in vielfältigen Gesellschaftsstrukturen. Das kann man politisch organisieren. Es ist ein demokratisches Versprechen und ein politischer Prozess, Chancengleichheit herzustellen. Der erste Schritt ist, anzuerkennen, dass es Ungleichheiten gibt, und sie auch ins Verhältnis setzen zu den eigenen Privilegien. Das ist gar nicht so einfach für ganz viele Menschen – das zeigt sich auch bei der Ost-West-Debatte, die wir in Deutschland führen.
In diesem Zusammenhang ist die große Frage, zu der wir gerade forschen: Ist es gerade die gelingende Integration, die Aversionen provoziert? Es gibt ja das verbreitete Narrativ: „Wenn die doch nur lesen, schreiben und mit Messer und Gabel essen könnten, dann hätten wir kein Problem mit denen.“ Doch offenbar ist das Gegenteil der Fall. Denn wenn wir in Studien simulieren, dass Muslime in Chefpositionen vordringen oder Bildungsaufstiege vollziehen, dann empfinden das in Westdeutschland mehr als dreißig Prozent der Menschen als Bedrohung – in Ostdeutschland sogar bis zu fünfzig Prozent. Die Integrationsdefizite liegen also auch auf der Seite des Hegemons. Wir sehen aber in der Integrationsforschung, dass diese wichtige Variable nicht miteingerechnet wird. Es wird immer als politischer Spin betrachtet, wenn gesagt wird: Es liegt auch an der Dominanzgesellschaft. Aber es ist einfach ein fehlendes Puzzlestück.
Ist diese Definition von Integration, die nicht nur auf MigrantInnen abzielt, vielleicht auch geeignet, um dem derzeit so oft heraufbeschworenen falschen Gegensatz zwischen dem Kampf für soziale Gerechtigkeit und jenem um kulturelle Anerkennung (Stichwort Identitätspolitik) entgegenzutreten?
Ja, in der Tat, mit dieser Perspektive vereinen wir die identitätspolitischen Debatten mit den Debatten um Ungleichheit, Schicht und Klasse. Das Ziel ist einfach, eine integrative Demokratie zu sein. Und wenn in dieser Demokratie ältere Menschen nicht genügend integriert sind oder Menschen, die auf dem Land leben, weil man den öffentlichen Personennahverkehr abgebaut hat oder es kein Krankenhaus mehr gibt dort, dann ist Integrationspolitik nötig. Weil: Es geht darum, die Menschen nicht auszuschließen aus der Demokratie. Denn genau das passiert an vielen Stellen.
Gemeinsam mit Jana Hensel haben Sie gerade das Buch „Die Gesellschaft der Anderen“ veröffentlicht. In Ihrer neuen Studie zur (p)ostmigrantischen Gesellschaft verweisen Sie auf Analogien zwischen der Diskriminierung von Ostdeutschen und MuslimInnen, was auch für Kritik gesorgt hat. Worin bestehen die Parallelen und worin die Kritik?
Im Grunde lässt sich eine Migrantisierung von Ostdeutschen beobachten. Wir haben in einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage gezeigt, dass zentrale Vorurteile gegenüber MuslimInnen auch Ostdeutsche betreffen. Der Vorwurf der ewigen Opferhaltung wird beiden Gruppen gemacht, genau wie beiden Nähe zum Extremismus und ein Demokratiedefizit unterstellt wird. Aber dass es eine empirische Ungleichheit gibt und dass Ostdeutsche Benachteiligung erleben, dafür gibt es kein Bewusstsein in der Dominanzkultur – während das in Bezug auf MuslimInnen schon der Fall ist.
Die Studie hat für sehr viele Diskussionen gesorgt – auch, weil viele Menschen eine Analogie oft als Gleichsetzung missverstehen. Aber für uns in den Sozialwissenschaften ist die Methode des Vergleiches sehr sinnvoll, um Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zu erheben. Es wurde auch kritisiert, dass Rassismus unsichtbar gemacht würde, weil wir Ostdeutsche zu Opfer erklärt hätten.
Denselben Vorwurf gibt es ja auch ganz oft beim Thema Islamismus, wenn versucht wird, Radikalisierungsprozesse zu verstehen. Aber wenn man zeigt, dass Abwertungsgefühle Aggressionen und schlimmstenfalls auch Gewalt erzeugen können, dann geht es nicht darum, Terrorismus schönzureden, sondern darum, viele Erklärfaktoren zu berücksichtigen. Dennoch kommt es oft als Legitimierung an.
Sehen Sie diese Gefahr auch im aktuellen politischen Diskurs nach dem islamistischen Terroranschlag in Wien?
Ein Hauptmotiv von rechtem und islamistischem Terrorismus ist ja, die Gesellschaft zu spalten und bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen. Das weiß man inzwischen. Es ist daher wichtig, den Terror von politischer Seite mit einem demokratischen Narrativ zu beantworten. Manche versuchen, gerade das als naiv darzustellen, weil sie sich durch eine plumpe Kraftrethorik kurzfristig befriedigt fühlen – sei es aus Trotz, Rache, Schutz oder Leid. Die populistische Versuchung, reflexhaft Ressentiments zu bedienen, ist für viele Politiker daher einfach zu groß. Leider hat der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz nur im ersten Moment die demokratische Reflexion geschafft – danach hat er dem pauschalisierenden Ressentiment mehr Platz eingeräumt. Manche mögen ihn dafür feiern. Für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt ist das nicht förderlich.
Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität, Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung sowie Leiterin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung.