Im Netz tobt eine Debatte um sogenanntes “Queerbaiting”. Die Kritik an der schnöden Marketingstrategie ist mehr als angebracht – den Begriff inflationär zu verwenden, kann aber nach hinten losgehen. Von Brigitte Theißl.
Zwischen Jane Rizzoli und Maura Isles stimmt die Chemie. Die schlagfertige Kommissarin und die Gerichtsmedizinerin aus einer Bostoner Upper-Class-Familie bilden in der US-amerikanischen Krimi-Serie ein weibliches Buddy-Team, wie es im TV immer noch selten zu sehen ist. „Rizzoli & Isles“ ist aber auch auf jener Liste zu finden, die besonders unverschämte Beispiele von Queerbaiting auflistet. Der Begriff, der sich ab 2010 im Netz verbreitete, kritisiert vorrangig eine Marketingstrategie. So werden etwa in Serien queere Charaktere oder Beziehungen über einen längeren Zeitraum hinweg angedeutet und damit ein queeres – zahlungskräftiges – Publikum vor die Bildschirme gelockt. Das erzählerische Versprechen bleibt jedoch ein leeres. Mehr noch: Konkret darauf angesprochen verwitzeln Darstellerinnen oder Produzentinnen das queere Marketing sogar oder weisen entsprechende Spekulationen strikt zurück. So auch bei „Rizzoli & Isles“, die auf einem Werbeposter spielerisch mit Handschellen aneinander gekettet zu sehen waren – Showrunner Janet Tamaro zeigte sich in Interviews hingegen „amüsiert“ über die „Lesben-Theorie“.
Queere Vorbilder. Mit dem Start von Netflix und anderen Streaming-Plattformen ist die Anzahl queerer Charaktere in Serien inzwischen geradezu explodiert. Fans müssen sich nicht länger mit zaghaft angedeuteter Zuneigung oder queeren Charakteren begnügen, die kurz nach ihrem Auftauchen ein tragisches Schicksal ereilt. Autor*innen entwerfen vielmehr komplexe Geschichten und würdigen queere Beziehungen in allen ihren Facetten. „Es braucht dringend Sichtbarkeit für queere Lebensrealitäten, gerade für Jugendliche und junge Erwachsene, die mitten in ihrer Identitätsfindung stecken“, sagt Anton Cornelia Wittmann von der HOSI Salzburg. Wittmann ist in der regionalen Jugendarbeit aktiv und weiß, wie schwierig es für viele queere Jugendliche ist, ein positives Selbstbild zu entwickeln. „‚Schwul‘ ist immer noch ein mächtiges Schimpfwort“, sagt Wittmann im an.schläge-Gespräch. Umso wichtiger sei es, dass Medien nicht auf überzeichnete und stereotype Darstellungen zurückgreifen, sondern queere Charaktere in all ihrer Vielfalt zeigen.
Eine Partnerin für Elsa. Trotz aktueller Erfolgsserien wie „Euphoria“ (siehe S. 16) ist die Debatte um Queerbaiting keineswegs verschwunden. So steht etwa der Disney-Konzern ganz besonders in der Kritik: Seine weltweit vermarkteten Superheld*innen-Blockbuster kommen gänzlich ohne queere Charaktere aus, aber in Animationsfilmen wie „Luca“ und „Frozen“ werde Queerbaiting betrieben.
Elsa, Heldin der „Frozen“-Reihe, inspiriert nicht nur Buben dazu, im Prinzessinnenkleid den Kinder-Superhit „Let it go“ zu schmettern, Elsa wird auch als queere Figur gefeiert. Und das, obwohl sie in „Frozen“ schlicht kein Interesse an Liebesbeziehungen zeigt. Dass sie aber auch nicht offen hetero ist, lässt Raum, sich einen ersten lesbischen Disney-Charakter zu entwerfen. 2016 trendete der Hashtag #GiveElsaaGirlfriend auf Twitter – erfolglos: Das erhoffte Coming-out blieb in „Frozen 2“ aus. Millioneneinnahmen stünden für den Disney-Konzern, der seine Filme auch in autoritären Staaten wie China verkaufen will, immer an erster Stelle, so Kritiker*innen. Dass die Konzernverantwortlichen sich zu politischen Statements durchringen können, zeigt aktuell die öffentliche Schlacht zwischen Disney und Gouverneur Ron DeSantis. Disney hatte das menschenverachtende „Don’t say gay“-Gesetz in Florida kritisiert, das Schulunterricht über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität verbietet.
Gatekeeping. Der Vorwurf des Queerbaitings beschränkt sich indes nicht auf fiktionale Figuren, er trifft auch ganz reale Popstars. Als Billie Eilish sich in ihrem Video zu „Lost Cause“ mit mehreren jungen Frauen auf dem Bett räkelte und auf Instagram ein Posting mit der Caption „I love girls“ versah, debattierten Fans, ob dies als Coming-out des Superstars zu lesen sei oder Eilish schamloses Queerbaiting betreibe. Doch Künstler*innen Queerbaiting zu unterstellen, sei gefährlich und eine neue Art des Gatekeepings, entgegnen Kritiker*innen. Immer mehr junge Menschen würden ihr Geschlecht und ihre sexuelle Identität als fluid erleben – ihnen ein Label aufzuzwingen, schränke sie dabei ein. Auftritte von Billie Eilish oder Taylor Swift heben sich zudem klar von der Fetischisierung lesbischer Sexulität für den männlichen Blick ab, die in den Nuller-Jahren noch fröhlich zelebriert wurde. So inszenierte sich das russische Duo t.A.T.u. in seiner Hit-Single „All the things she said“ als lesbisches Paar im Schulmädchen-Outfit, Sängerin Julia Volkova fiel wenig später mit homofeindlichen Aussagen im russischen TV auf. Ebenso für Aufregung sorgte der Kuss zwischen Madonna und Britney Spears bei den MTV-Awards 2003, der Saalgäste wie Justin Timberlake sichtlich („sexy!“) begeisterte.
Alle lieben Harry. Im Mittelpunkt heftiger Queerbaiting-Debatten stand zuletzt auch ein weiterer Superstar der Generation Z: Harry Styles. Das ehemalige One-Direction-Mitglied hat sichtlich Freude daran, mit seinen Outfits Geschlechtergrenzen zu verwischen, Styles tritt mit Perlohrring und als Meerjungfrau auf und war als erster Mann solo auf dem Cover der Vogue zu sehen – im bodenlangen Kleid. Wer nach Informationen zu seiner sexuellen Orientierung sucht, findet online nicht bloß versprengte Spekulationen, sondern Stunden an Videomaterial. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Als sich 2010 die Casting-Boyband One Direction gründete, dichteten Fans Styles und seinem Bandkollegen Louis Tomlison eine heimliche Liebesbeziehung an: Fan Fiction, die sich zu einer aggressiven Verschwörungstheorie namens Larry Stylinson auswuchs und deren Anhänger („Larries“) noch heute aktiv sind. Während Tomlison die unterstellte Beziehung stets abstritt und negative Auswirkungen auf die Beziehung zu seiner Freundin beklagte, äußerte sich Harry Styles nie dazu. Auf seinen Solo-Konzerten schwingt Styles häufig die Pride-Flagge, im 2022 erschienenen Film „My Policeman“ verkörperte er den Polizisten Tom Burgess, der in den 1950er-Jahren eine heimliche und illegale Liebesbeziehung mit einem Mann führt. Im realen Leben sind in der Dating-History von Styles jedoch nur cis Frauen zu finden – allen voran Supermodels wie Kendall Jenner, Emily Ratajkowski und Camille Rowe. Queerbaiting also, so auch die Kritik an Styles. Darauf angesprochen sagte Harry in einem Interview mit dem „Rolling Stone“, dass er selbst nie eine Beziehung öffentlich gemacht habe, sondern bloß Paparazzi-Fotos von ihm und Frauen existierten.
Fuck the business. Für „Heartstopper“-Darsteller Kit Connor hatte der Queerbaiting-Vorwurf drastische Folgen. Connor spielt in der Netflix-Verfilmung einen bisexuellen Jugendlichen, in den sozialen Medien sei deshalb großer Druck auf ihn ausgeübt worden. „Ich bin bi. Herzlichen Glückwunsch, dass ihr einen 18-Jährigen dazu gezwungen habt, sich selbst zu outen. Ich glaube, manche von euch haben den Sinn der Serie nicht verstanden. Bye“, twitterte er daraufhin. „Für queere Personen muss es immer ein selbstbestimmtes Coming-out geben“, sagt Anton Cornelia Wittmann. Menschen, die öffentlich sehr straight auftreten würden, würden nie zu ihrer sexuellen Identität befragt, während jegliche Ambivalenz bohrende Fragen nach sich ziehe. „Das Problem im PopBusiness liegt vielleicht auch ganz woanders“, sagt Wittmann. Offen queere Musiker*innen wie Sam Smith würden zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, während jene Stars, die ein Label für ihre sexuelle Orientierung verweigern, regelmäßig die Schlagzeilen dominierten. So zeigte sich auch der Schwarze schwule Künstler Billy Porter enttäuscht darüber, dass ausgerechnet Harry Styles als erster Mann im Kleid auf dem Vogue-Titel zu sehen war. Porter selbst schreitet regelmäßig in Kleid und High Heels über den roten Teppich – Mode, die für ihn höchst politisch sei. „Ich sehe da aber nicht einzelne Personen in der Verantwortung“, sagt Anton Cornelia Wittmann. Ein ganzes System müsse sich vielmehr ändern – und queere Künstler*innen nicht länger diskriminieren.
Fuck homofeindliche Männlichkeit. Shootingstar Bad Bunny, der mit Reggaeton und Latin-Rap die Streaming-Charts dominiert und dem ebenso Queerbaiting vorgeworfen wird, bekennt sich in Interviews als Anhänger eines fluiden Verständnisses von sexueller Identität. „Das macht mich nicht aus. Am Ende des Tages weiß ich nicht, ob ich in zwanzig Jahren einen Mann mögen werde. Das weiß man im Leben nie. Aber im Moment bin ich heterosexuell und ich mag Frauen“, sagte er 2020 der „Los Angeles Times“. Bei den MTV Video Music Awards 2022 performte er seinen Song „Titi Me Pregunto” und küsste sowohl eine Background-Tänzerin als auch einen Tänzer. In einem Genre, das traditionell mit frauenfeindlichen Lyrics auffällt, haben die Aussagen des 29-jährigen Puerto-Ricaners besonders Gewicht – auch gegen Sexismus und Gewalt an Frauen spricht sich Bad Bunny regelmäßig aus.
Männlichkeit, die sich nicht länger über die Abgrenzung zu Homosexualität definiert, kann nur als politischer Gewinn verstanden werden – allem vermeintlichen Queerbaiting zum Trotz.
Brigitte Theißl ist für euch in diverse Rabbitholes auf Reddit getaucht und hat Darlene Connor in „Roseanne“ immer schon als queeren Charakter gelesen.