Dank #MeToo wird sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz endlich als politisch relevantes Thema diskutiert. Doch Betroffene in schlecht bezahlten Berufen bleiben weiter unsichtbar. Von Lisa Wölfl
Nadine sitzt im Büro, um ihren Dienstplan zu besprechen, als ihr Chef fragt: „Sind deine Titten echt?“ Ihre erste Reaktion: Selbstzweifel. „Ich habe erst gedacht, vielleicht habe ich ihn falsch verstanden, weil mein Deutsch noch nicht perfekt ist.“
Wegen einer Allergie sind Nadines Augen zugeschwollen, der Chef schickt sie nach Hause in den Krankenstand. Über ihren Freund, der ebenfalls im Unternehmen arbeitet und in Hörweite steht, sagt der Chef: „Vielleicht hat er ihr wieder in die Augen gespritzt.“
Das sind nur zwei Vorfälle, die sich in Nadines Erinnerung eingebrannt haben. Zwei Jahre lang arbeitet die 22 Jahre alte Frau in einem Unternehmen, das Catering für Züge anbietet. Nadine ist nicht ihr echter Name. Sie möchte nicht von ehemaligen Kolleg:innen oder Vorgesetzten erkannt werden. Das Umfeld, das sie beschreibt, ist toxisch.
Da ist der eine Chef, der sie mit intimen Fragen sexuell belästigt. Der andere Vorgesetzte, der sie wochenlang dazu bringen will, mit ihm abendessen zu gehen, und nach mehrmaligem Nein unfreundlich wird, ihr nur noch die schlechten Routen zuteilt. Daneben die Fahrgäste, die immer wieder Grenzen überschreiten.
Jung, weiblich, mies bezahlt. Wegen der Pandemie muss sie die geplante Kündigung hinauszögern. Nadine hat Sorge, dass sie so schnell keinen anderen Job finden würde. Es ist ihr erster Job in Wien, ursprünglich kommt sie aus Brasilien. Dort lebt auch ihre Familie, die sie finanziell unterstützt. „Die Kolleginnen und Kollegen haben mir nicht beigestanden. Stattdessen wurde hinter meinem Rücken schlecht über mich gesprochen“, sagt sie.
Wer sich mit sexueller Belästigung beschäftigt, weiß: Nadine gehört praktisch zur Hochrisikogruppe für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Eine junge Frau ohne österreichische Staatsbürgerschaft, die erst seit ein paar Jahren hier wohnt, schlecht bezahlt in der Gastronomie arbeitet und von ihrem Job abhängig ist.
Andrea (Name geändert) ist heute 49 Jahre alt. Ihre Erfahrungen mit Belästigung am Arbeitsplatz liegen rund 25 Jahre zurück. Trotzdem – sie spürt die Scham und Hilflosigkeit heute noch. Als Studentin jobbte sie an der Rezeption eines Hotels. Der Hoteleigentümer kommentierte ihre Haarfarbe und fragte, ob sie denn auch rote Schamhaare habe.
„Ich habe nichts erwidert“, erzählt Andrea. Der Hotelbesitzer ist in Österreich gut vernetzt, er hat die Kontakte, er hat das Geld. „Ich habe mir gedacht, ich kann ohnehin nichts gegen ihn ausrichten. Er kam mir so mächtig vor.“
Es bleibt nicht bei der einen Erfahrung. Als Andrea im Service aushilft und in der Küche Teller holen möchte, hält der Chefkoch ihr ein aufgeschnittenes Schwein ins Gesicht: „Brauchst du einen Penis?“ Andrea läuft in den Keller und weint. „Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen“, sagt sie heute. „Ich fange an zu zittern, wenn ich nur darüber spreche.“
Es geht um Macht. „Bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz geht es meist um Macht“, sagt Melanie Kocsan, Juristin in der Abteilung Frauen und Familie bei der Arbeiterkammer Wien. Die meist männlichen Chefs und Kollegen würden ausloten, wie weit sie gehen können, ohne dass sich die Betroffene wehrt. Ehrliches Interesse an einer Verabredung bestehe in den allermeisten Fällen nicht. Kocsan hat jahrelang Betroffene aus allen Branchen arbeitsrechtlich beraten. „Belästigung gibt es überall“, sagt sie. „Auffällig ist aber immer wieder das Gastgewerbe und generell der Dienstleistungssektor.“
In einer Befragung der Arbeiterkammer Oberösterreich gaben 56 Prozent der Arbeitnehmerinnen an, bereits eine Form von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz erlebt zu haben. Dazu gehören abfällige Äußerungen vom Chef, Kollegen, die in den Ausschnitt starren, und körperliche Übergriffe.
Bald vier Jahre ist es her, dass die #MeToo-Bewegung die Schlagzeilen dominierte, im Mittelpunkt standen Berichte von Schauspieler:innen oder Regisseur:innen. Den Erfahrungen von Menschen wie Nadine und Andrea wurde medial wenig Beachtung geschenkt.
Zwar merkt Kocsan bei ihrer Arbeit, dass seitdem auch in Österreich das Bewusstsein zugenommen hat, aber: „Die breite Auseinandersetzung mit #MeToo am Arbeitsplatz ist leider ausgeblieben.“ Denn gerade dort, wo die Arbeitsbedingungen eher schlecht sind, fehle die Auseinandersetzung damit.
Abhängigkeiten. Flavia Matei arbeitet ehrenamtlich in der IG24, der Selbstvertretung von 24-Stunden-Betreuer:innen in Österreich. Sexuelle Belästigung und Gewalt durch Klient:innen sei immer noch ein Tabuthema, sagt sie. „Für solche Situationen gibt es keine Regeln oder Handlungsanweisungen.“
Doch 24-Stunden-Betreuer:innen sind wahrscheinlich ganz besonders häufig sexueller Belästigung ausgesetzt, auch wenn detaillierte Erhebungen für diese Berufsgruppe fehlen. Eine Studie zeigt allerdings, wie häufig Übergriffe im Pflegebereich sind. 71,2 Prozent der Pflegerinnen und 46,9 Prozent der Pfleger werden mindestens einmal pro Jahr im Rahmen von intimer Pflege Opfer von Belästigung durch Patient:innen.
Die 24-Stunden-Betreuung ist ein freies Gewerbe. Das heißt: Wer in diesem Beruf arbeiten möchte, braucht keine Ausbildung, kein Zertifikat, keine formelle Qualifikation. Das bedeutet auch, dass Betreuerinnen nicht darin geschult werden, wie sie mit übergriffigen Situationen umgehen können.
Der Großteil der 24-Stunden-Betreuer:innen kommen aus der Slowakei und aus Rumänien, nur 1,3 Prozent aus Österreich. Häufig hindert die Sprachbarriere Betroffene daran, die eigenen Rechte durchzusetzen. Laut Matei unterschreiben Betreuer:innen ihren Vertrag oft erst in Österreich, stehen dabei unter Druck und können ihn nicht genau durchsehen.
Dazu kommt, dass die Betreuer:innen im Normalfall keinen eigenen Wohnsitz in Österreich haben, sie leben im Haus der Pflegebedürftigen. Mal in einem eigenen Zimmer, mal schlafen sie im selben Raum wie die betreute Person. Reichen sie Beschwerde ein, könnten sie kurzfristig nicht nur ihr Einkommen, sondern auch ihre Unterkunft verlieren. „Da besteht eine sehr starke Abhängigkeit“, sagt Matei.
24-Stunden-Betreuerinnen sind auf dem Papier selbstständige Ein-Personen-Unternehmen. Die Arbeiterkammer ist also nicht zuständig. Die Wirtschaftskammer hat wiederum keine spezialisierte Abteilung, um Betroffene von sexueller Belästigung oder Gewalt zu beraten. „Betreuerinnen können sich an niemanden wenden“, sagt Flavia Matei. „Wir haben erlebt, dass die Pflegeagenturen Nachrichten von Betroffenen ignorieren.“ Im besten Fall würde die Agentur einen neuen Platz für die Betreuerin suchen. „Das heißt: Eine andere muss den problematischen Platz übernehmen. Es ist ein Teufelskreis.“
Verantwortlichkeiten. Dasselbe belastende Erlebnis immer wieder wiederholen zu müssen, hält Menschen davon ab, vor Gericht zu ziehen. „Der Schadenersatz, der Betroffenen zugesprochen wird, ist auch immer noch zu niedrig“, sagt Melanie Kocsan von der AK. „Oft wird vor Gericht nicht viel mehr als der gesetzliche Mindestbetrag zugesprochen. Für 1000 Euro wollen sich das viele nicht antun.“
Sie sieht die Verantwortung für die Prävention von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz bei den Arbeitgeber:innen und rät: darüber sprechen, sensibilisieren, Workshops anbieten. Und ganz klar signalisieren: Wer einen Fall meldet, wird unterstützt – wer belästigt, wird die Konsequenzen tragen. „Hilfreich ist auch eine unabhängige Meldestelle, entweder im Betrieb oder extern“, sagt Kocsan.
Betroffenen rät sie, die Vorfälle zu dokumentieren. Wenn die Belästigung von Kolleg:innen ausgeht, könne man mit einer Vertrauensperson oder dem Betriebsrat sprechen. Bei Chef:innen als Belästiger:innen ist es eine gute Idee, sich gleich an eine externe Beratungsstelle wie die Arbeiterkammer zu wenden.
Andrea sagt, mit ihrem heutigen Wissen hätte sie sich an eine Beratungsstelle gewandt. Nadine geht diesen Weg. Sie klagt ihren ehemaligen Arbeitgeber auf Schadenersatz, das Verfahren läuft. „Das Geld ist mir egal“, sagt sie, „Aber ich weiß, dass die Chefs das auch mit anderen Mitarbeiterinnen machen, und das muss endlich aufhören.“
Lisa Wölfl ist Journalistin, Podcasterin und Moderatorin in Wien.