CHRISTINA THÜRMER-ROHR ist durch ihre These von der Mittäterschaft von Frauen in die feministische Geschichtsschreibung eingegangen. LEA SUSEMICHEL hat sie gefragt, warum Frauen* keine besseren Menschen sind.
an.schläge: Sie haben Anfang der 1980er in der feministischen Szene mit Ihrer These für Empörung gesorgt, dass Frauen keineswegs immer Opfer seien, sondern dass sie auch Täterinnen und Mittäterinnen waren und sind. Nicht nur im Nationalsozialismus, sondern mitunter auch als Komplizinnen im patriarchalen System. Inwiefern?
Christina Thürmer-Rohr: Es ging mir darum, die Funktionsweisen des patriarchalen Systems zu verstehen. Der Begriff „Mit-Täterschaft“ spielt an auf das „Mit“, d. h. auf eine historische Koalition von Frauen und Männern bei der Aufrechterhaltung der Geschlechterhierarchien. Das patriarchale System besteht ja nicht einfach aus einer „Männerwelt“, in der die Frauen ein separates Dasein zeitigen, sondern ist angewiesen auf das Mitmachen von Frauen, auf die „Frau an seiner Seite“. Ohne diese Verwobenheiten, die direkte oder indirekte Unterstützung oder Billigung männlicher Vorhaben durch die zugehörigen Frauen, ist die Geschlechtergeschichte nicht zu begreifen. Das ist ja eine ganz banale Tatsache, ein einfacher Gedanke, den übrigens andere auch schon hatten, z. B. Hedwig Dohm, Martha Mamozai, auch Mary Daly, bevor sie in die Esoterik abdriftete.
Und warum war das damals so skandalös?
Die These von der „Mittäterschaft“ ist keine persönliche Attacke gegen Frauen, sondern ein Beitrag zur feministischen Theorie und Gesellschaftsanalyse. Der Ansatz war anfangs zwar eine Provokation, hat aber grundlegende Veränderungen der feministischen Debatten und des Selbstverständnisses vieler Frauen ausgelöst. Und keineswegs alle fanden den Ansatz skandalös.
Einwände gab es von zwei Seiten: zum einen von denen, die Frauen gern als rein, gut und als immerwährende Opfer ansehen wollten und die These für unfeministisch hielten, für eine Verletzung ihrer „Identität“. Zum anderen von Schwarzen Frauen und Migrantinnen, die in dem Begriff „Mittäterschaft“ eine Bagatellisierung der Beteiligung weißer Frauen an kolonialistischer und rassischer Unterdrückung ansahen. Sie bestanden darauf, Frauen der westlichen und weißen Welt nicht als Mit-Täterinnen, sondern als selbst- und vollverantwortliche Täterinnen in der Dominanzkultur zu benennen, als eigenständig Handelnde in einer ungerechten und rassistisch grundierten Welt-Gesellschaft. Dieser Einwand ist sehr ernst zu nehmen. Wir kommen aber in der Debatte nicht weiter, wenn es immer wieder um ein Entweder-Oder geht: Welche Unterdrückungsform hat Vorrang, das Patriarchat oder der Rassismus? Der Ansatz der Intersektionalität versucht, diesem Dilemma zu entgehen.
Ganz verschwunden ist der Glaube daran, dass Frauen die besseren Menschen sind, bis heute nicht – vor allem unter Feministinnen. Woran liegt das?
Das kann ich nicht beantworten. Da müssten Sie sie selber fragen. Ich halte das für eine ziemlich kindliche und egozentrische Wunschvorstellung. Frauen sind nicht die besseren Menschen, sondern haben eine andere Geschichte. Das heißt aber nicht, dass sie deswegen qua Geschlecht eine andere Spezies sind. Es geht ja nicht um die eigene saubere Weste, sondern um eine Realität, die in aller Deutlichkeit vor Augen führt, dass Frauen nicht in eine einheitliche Kategorie gepresst werden können, sondern im ganzen Spektrum von rechts bis links, fremdenfeindlich bis kosmopolitisch, angepasst bis eigenständig, feige bis mutig zu finden sind.
Sie sind selbst die Tochter eines Nationalsozialisten, inwiefern hat das Ihre Theoriebildung zum Thema Mittäterschaft und Täterschaft geprägt?
Ich habe meinen Vater nicht gekannt. Er ist im Krieg gestorben, als ich noch ein Kleinkind war. Er war Mitglied der NSDAP und zugleich Mitglied der Bekennenden Kirche (Oppositionsbewegung evangelischer Christ_innen, Anm. d. Red.). Ich habe keine Erinnerungen an ihn. Aber selbstverständlich war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der Kriegs- und Nachkriegserfahrung eine grundlegende Erfahrung. Sie konfrontierte nicht nur mit dem „Faschismus als reinem Männersystem“, wie die Frauen-Geschichtsschreibung in den Siebzigerjahren es gern wollte, die deutsche Frauen pauschal als Überlebensarbeiterinnen, Trümmerfrauen und Geschädigte darstellte. Sondern der Nationalsozialismus konfrontierte auch mit der Tatsache, dass Frauen an der „Heimatfront“, als sogenannte Kulturträgerinnen im Rahmen der Familien, aber auch an dominanten Orten des Systems eine stabilisierende Rolle gespielt haben. Auch wenn sie meist arbeitsteilig und aus marginaler Position agierten, war ihre Unterstützung für das Gesamtsystem wesentlich und unentbehrlich. Das ist doch heute Allgemeingut. Jeder und jede kann sehen, dass rechtsradikale, völkische, nationalistische, rassistische Entwicklungen nicht nur von Männern vorangetrieben werden und dass Frauen in verschiedenen europäischen Ländern dabei eine unterstützende und sogar führende Rolle spielen.
Der Film „Ein deutsches Leben“ porträtiert Goebbels Sekretärin Brunhilde Pomsel. Ist ihr Fall exemplarisch?
Frauen in führenden oder dienenden Positionen im Nationalsozialismus rechtfertigten sich meist mit dem Argument, sie seien völlig unpolitisch gewesen, hätten nur ihre Pflicht getan und von den Verbrechen nichts gewusst. Es ist eine ähnliche Verteidigungshaltung wie die der männlichen Groß- und Kleintäter. Immer geht es darum, sich selbst reinzuwaschen und Zusammenhänge auszublenden.
Sie plädieren angesichts der Differenzen zwischen Frauen für Freundschaft statt Schwesternschaft. Wodurch unterscheiden sich die beiden Konzepte?
Die Wörter „Schwester“ und „Schwesterlichkeit“ basieren auf dem Familienmodell, einer biologischen Verwandtschaftsmetapher. Es ist das Bild der Gleichheit im Sinne des Gleichseins – wir gehören zusammen, „wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt“. Auch wenn Familien sich zerstreiten, bleiben sie doch Familien. Demgegenüber beruht das Freundschaftsmodell auf der Andersheit: Freundschaften sind selbst gewählte Verbindungen zwischen Verschiedenen, und wenn sie zusammenbleiben wollen, müssen sie die Andersartigkeit – von Herkünften, Erfahrungen, Prägungen etc. – anerkennen und eine Verständigung suchen, die sich nicht von allein ergibt. Deswegen ist Freundschaft das Modell für eine Pluralität, die Grundlage des Politischen ist.
Sie waren stets eine scharfe Kritikerin einer Psychologie, die „das Wort Gesellschaft nicht kennt“. Eine Therapie, die sich nur dem Mikrokosmos der Psyche widmet, dem „insulären Ich“ und seinen individuellen Problemen, wäre ohne Gesellschaftskritik wenig zielführend.
Ich habe mich gegen eine Psychologie gewandt, die bis zu den Sechzigerjahren nicht von gesellschaftlichen Bedingungen sprach. Man untersuchte den „Aufbau der Person“ und diagnostizierte Individuen wie singuläre Einheiten. Deswegen habe ich mich von der Psychologie entfernt und mich der Stadtplanung und dann dem Feminismus zugewandt.
Sie haben sich bereits Anfang der 1970er von der in Ihren Augen zunehmend autoritärer werdenden linken 68er-Bewegung abgewendet. Sie beklagten das „gewaltförmige Denken“, das keine Fragen und Zweifel mehr zuließ. Gegenwärtig gibt es in der queerfeministischen Szene heftige Debatten, auch jetzt ist von Dogmatismus und „Sprechverboten“ die Rede …
Die Universität war in den Siebzigerjahren – besonders in Westberlin – ein Agitationsort der kommunistischen Kader. Die Einflussversuche waren hochgradig diktatorisch und „Dialog“ war ein Schimpfwort. Gearbeitet wurde mit Einschüchterungen, Denkverboten, Drohungen, Nötigungen, Worten als Waffe. Es war eine ideologische Gewalt, die nicht zu eigenem Denken führen kann, höchstens zu Imitation und Kopie, zur Unterwerfung unter halbverstandene Wahrheiten. Für mich waren diese Erfahrungen der Anlass, mich der Frauenbewegung anzuschließen.
Sie arbeiten in der Tradition Hannah Arendts zum dialogischen Denken, das sich selbst immer wieder hinterfragt und herausfordert. Was zeichnet dieses Konzept aus? Und wie ist es für politischen Aktivismus fruchtbar zu machen?
Dialogisches Denken und Handeln folgt aus dem politischen Prinzip der Pluralität, das unsere Existenzbedingung und das zugleich zerstörbar ist. Es geht um ein politisches Denken, das die verschiedenen Menschen einbezieht, auch die, die wir uns nicht ausgesucht haben. Das zu beherzigen heißt, die Welt mit anderen zu teilen.
Christina Thürmer-Rohr, die vergangenes Jahr ihren achtzigsten Geburtstag feierte, ist eine Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung und eine der einflussreichsten feministischen Theoretikerinnen Deutschlands. Die Sozialwissenschaftlerin und Musikerin gründete 1976 den ersten Studienschwerpunkt Frauenforschung an der TU Berlin.