Incels sind ein Symptom. Wer gegen Frauenhass vorgehen will, muss an die Wurzel des Übels, sagt Veronika Kracher. Sie ist tief in die Onlinenetzwerke der misogynen Incel-Szene vorgedrungen und hat soeben das erste deutschsprachige Buch zum Thema veröffentlicht. Interview: Linda Peikert
an.schläge: Was bedeutet der Begriff Incel? Und wer sind diese Typen?
Veronika Kracher: Incels ist die Kurzform für involuntary celibates – also unfreiwillig zölibatär Lebende. Wenn man den Umfragen glauben kann, handelt es sich dabei primär um junge Männer zwischen 18 und 24 Jahren. Es sind auch relativ viele Minderjährige mit dabei. Sie empfinden sich selbst als unattraktiv und sind überzeugt davon, dass unattraktive Männer gesellschaftlich ausgegrenzt würden. Das manifestiere sich darin, dass Frauen nicht mit ihnen schliefen, und dies wiederum liege am Feminismus und der sexuellen Revolution. Diese vermeintliche Herabwürdigung kompensieren sie mit Misogynie.
Viele weiße Incels hängen zusätzlich zu misogynem auch rassistischem Gedankengut an, nicht-weiße Incels haben oft Rassismus internalisiert. Indisch-pakistanische Incels bezeichnen sich z. B. als „Currycels“.
Incels betrachten sich als Verlierer im sexuellen Wettbewerb in Bezug auf die sogenannte „genetische Lotterie“. Aus diesem Gefühl heraus entwickeln sie so eine Art Paranoia, auch Mobbingerfahrungen in der Teenagerzeit dürften eine Rolle spielen. Bei der erfolgreichen Performance von hegemonialer Männlichkeit spielen „Sex haben“ und „gut bei Mädchen oder Frauen ankommen“ eine wichtige Rolle. Sie sehen nicht, dass hegemoniale Männlichkeit und das Patriarchat an diesen Normen schuld sind.
Wie sieht das Frauenbild der Incels im Detail aus?
Frauen sind in ihren Augen einfach super, super böse. Incels fühlen sich von weiblicher Sexualität eingeschüchtert. Frauen wird zugeschrieben, dass sie triebhaft, hypergam und oberflächlich seien, die ganze Zeit an Sex dächten und auch ständig Sex haben könnten. Feminismus und sexuelle Revolution hätten den Untergang der westlichen Welt eingeläutet. Ein beliebter Trend war es lange Zeit, dass man sich auf Datingportalen als attraktiver Mann ausgibt und Frauen nach Nacktbildern fragt, um sie anschließend mit der Veröffentlichung zu erpressen. Manche Incels tauchen auch bei Dates auf, beschimpfen die Frau, filmen die Szene und stellen sie ins Internet. Die Radikalisierung von Incels hat wiederholt auch zu Morden an Frauen geführt. In den Augen von Incels sollten Frauen unterwürfig sein und Kinder bekommen – mehr nicht.
Wie gefährlich sind Incels? Vor allem hier in Deutschland oder Österreich?
Ein Vorteil ist, dass man hier schwerer an Waffen kommt als in den USA. Aber es fängt ja mit verbaler, körperlicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen an. Letztes Jahr gab es in Wien den Fall, dass ein junger Mann mehrere Frauen angemacht und eine davon schließlich krankenhausreif geprügelt hat. Da gehen bei mir die Incel-Warnglocken an. Aber so viel ich mitbekommen habe, wurde nicht erforscht, ob es da einen Incel-Backround gab. Im deutschsprachigen Raum werden Femizide und Gewalt gegen Frauen oft viel zu oberflächlich betrachtet. Ein Femizid ist in Deutschland nicht einmal eine spezifische Straftat. Es wird dadurch viel zu wenig beleuchtet, was bei Gewaltverbrechen gegen Frauen die Motivation ist, und so bleibt misogyn motivierte Gewalt oft verborgen.
Wie schaffen es Incels, sich eine Realität zu imaginieren, in der Männer es sind, die zu kurz kommen?
Das ist die typische Täter-Opfer-Umkehrung. Das machen nicht nur Incels. Als die MeToo-Debatte geführt wurde, konnte man in vielen Zeitschriften Dinge lesen wie: „Oh Gott, man darf nicht mehr flirten!“ Wer Übergriffe als Flirten betrachtet, sollte wohl besser wirklich nicht flirten …
Die Incel-Szene ist Ausdruck davon, dass am Patriarchat langsam gerüttelt wird. Hegemoniale Männer fühlen sich durch die Emanzipation marginalisiert und sie reagieren mit antifeministischer, misogyner Gewalt, um ihre Hegemonieposition zu verteidigen. Incels sind Ausdruck patriarchaler Verhältnisse: Dieser Anspruch auf weibliche Sexualität und weibliche Körper findet sich aber nicht nur bei Incels. Ich schätze, wir haben alle schon mal die Erfahrung gemacht, dass man von einem Typen angeflirtet wird, Nein sagt und anschließend beleidigt oder bedroht wird. Das drückt aus, dass es für diese Männer eine narzisstische Kränkung ist, wenn ihnen ihr vermeintliches Recht auf weibliche Körper verwehrt wird. Bei Incels findet man das eben in der radikalsten Form.
Wird jeder Mann, der sich über sein Männlichsein radikalisiert, zum Incel?
Bei vielen Männern ist das Potenzial zum Incel da, bedauerlicherweise. Und deshalb muss – wenn man gegen Incels vorgehen möchte – eine grundlegende Patriarchatkritik geübt werden.
Wie radikalisieren sich Jungs oder Männer? Spielt dabei auch die Popkultur eine Rolle?
Auf jeden Fall. Es gibt ganz viele Geschichten, die aus androzentrischer Perspektive erzählt werden und in denen Frauen als Projektionsflächen, nicht als Subjekte vorkommen. Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft, und weil eben Männer eher die Geschichten von anderen Männern hören wollen und Männer Produktionsmittel besitzen, kriegen wir primär diese Perspektive erzählt. Es geht ständig nur um ihre Wünsche und Bedürfnisse – aber zum Glück bricht das langsam auf.
„Sexeducation“ auf Netflix zeigt etwa ein ganz anderes Bild eines jungen cis-männlichen Protagonisten …
Das ist eine meiner Lieblingsserien. Ich bin eine große Freundin von progressiven Bildern in der Popkultur, denn so etwas prägt uns tatsächlich und gibt uns Alternativbilder und neue Identifikationsmöglichkeiten. Ein paar Serien verändern nicht das ganze System, aber es ist ein Anfang.
Welche politischen Forderungen folgen für Sie daraus?
Wenn es nach mir ginge, sollte man den patriarchalen Kapitalismus überwinden. Der ist ja die Ursache des ganzen Mists. Das wird leider nicht von heute auf morgen passieren. Man sollte diese Internetforen schließen und mehr feministische Pädagogik anbieten. Wir brauchen eine Paritätenregelung. Wir brauchen also ein Männerlimit in Politik und Wirtschaft. Männer sperren sich gegen feministische Errungenschaften, und dann sollen wir sie auch noch mit „Feminismus ist ja auch gut für euch!“ überzeugen. Als sei es zu viel verlangt, Feminist aus Solidarität für andere zu sein. Männer sollten langsam einfach begreifen, dass sie feministische Kämpfe unterstützen sollten, und wenn sie das nicht tun – ja, dann sollte man sie vielleicht als politischen Feind betrachten. In Frankreich kam dieses Manifest „Ich hasse Männer“ heraus. Die Autorin fordert, Männer zu ignorieren, wenn sie sich weiterhin so verhalten. Warum denn eigentlich nicht?
Linda Peikert ist freie Autorin mit dem Schwerpunkt auf Feminismus und Lateinamerika.