Syrische Aktivistinnen riskieren ihr Leben, um das Kriegsgeschehen in Ost-Ghouta zu dokumentieren. Ein Bericht von JULIA RAINER von der UNO-Frauenrechtskonferenz in New York.
„Seit drei Wochen werden wir belagert und leben in Räumen, die deutlich unter den Luxusstandards Ihrer Sicherheitsrat-Räumlichkeiten liegen. Ich bin genau wie alle anderen Familien in Ghouta gezwungen, in diesen Kellern zu bleiben, die keine Schutzräume sind. Es sind modrige Kerker aus Schmutz, ohne Wasserversorgung oder Sanitäranlagen, nicht dazu gemacht, menschliches Leben zu beherbergen. Ich bin gezwungen, hier zu bleiben, weil das Assad-Regime und die russischen Streitkräfte uns täglich mit Fassbomben, Streubomben, Napalm und allen anderen Bombentypen bewerfen.“ Das sind die Worte, die Nivin Al Hotary, eine Syrerin, die mit ihrem Sohn und ihrer Tochter in Ost-Ghouta lebt, am 12. März dieses Jahres an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen richtete. Seit Wochen berichteten die Medien schon über die Kämpfe in diesem Gebiet, aber bisher war es kaum möglich gewesen, an AugenzeugInnenberichte aus der Enklave zu kommen. Deshalb wurde Al Hotary per Skype zu einer Sitzung des wichtigsten internationalen Gremiums zugeschaltet, um Zeugnis über die grauenhaften Lebensbedingungen der Menschen in Ost-Ghouta abzugeben.
Risiko. Für diese Aussage, wie auch für die Tagebucheinträge aus ihrem Untergrundverlies, die sie auf ihrem persönlichen Facebook-Account veröffentlicht, geht Al Hotary ein lebensgefährliches Risiko ein. Dass sie ihre Identität preisgibt und mit kritischer Stimme die Kriegsverbrechen im Rahmen der Belagerung dokumentiert, kann sie jederzeit persönlich zum Ziel einer Attacke werden lassen. Davon lässt sich Al Hotary jedoch nicht einschüchtern: In den drei Stunden, in denen täglich Waffenruhe und eine kurze Atempause zwischen schrecklichen Phasen dröhnenden Bombenhagels herrscht, macht sie sich an die Arbeit, verfasst Texte und sucht nach raren Internetverbindungen. Beim Schreiben nimmt sie kein Blatt vor den Mund: Sie beschreibt die katastrophalen Zustände unterhalb der Erde, die Krankheiten, an denen die Kinder durch die Mangelernährung sowie die Kälte und Feuchtigkeit der Kellerabteile leiden, und die Angst, mit der die eingesperrten Menschen ständig leben müssen.
„Ich war selbst dem Beschuss mit Streumunition, Chlorgas, Mörserbomben und ‚Elefantenraketen‘, wie wir sie nennen, ausgesetzt. Und ich habe die Momente des Terrors erlebt, die das Einschlagen der Bomben begleiten. Die Explosion, die uns anschließend für Sekunden taub zurücklässt. Ich kenne die Druckwelle, die der Einschlag freisetzt, und das Feuer, das danach ausbricht. Um Sie zu verschonen, erzähle ich Ihnen nichts über die Verletzungen, die von den Bomben zurückbleiben.“
Al Hotary ist durch Berichte wie diese zu einem der berühmtesten Gesichter der Zivilbevölkerung von Ost-Ghouta geworden, ihre Beiträge werden in Sozialen Medien tausendfach geteilt. Sofern es einen Alltag in diesen Verliesen geben kann, erzählt sie von ihm. So werden vor allem die täglichen Herausforderungen des Belagerungszustandes für die Außenwelt nachvollziehbar. Diese versteht sie berührend zu beschreiben, ohne dadurch Opfer-Stereotype zu reproduzieren. Doch Nivin Al Hotary ist nicht die einzige Aktivistin, die quasi live in den Sozialen Medien über die Ereignisse von Ost-Ghouta berichtet. Viele andere tun das ebenfalls.
Reisebeschränkungen. Warum also gelangen so wenige von diesen verstörenden Berichten in die Medien? Vertreterinnen von NGOs, die mit vielen der AktivistInnen zusammenarbeiten, sehen darin keinen Zufall. Insbesondere „Women now“, die größte Organisation, die sich für die Rechte syrischer Frauen einsetzt, kritisiert die mangelnde Sichtbarkeit der Betroffenen. Nicht nur medial würden diese wichtigen Stimmen ignoriert, auch bei den internationalen Verhandlungen würden sie vielfach nicht zugelassen. Bei einem Treffen des Sicherheitsrates über die Situation in Ost-Ghouta im März konnten viele Aktivistinnen nicht teilnehmen, obwohl dies ursprünglich vorgesehen war. Die Situation in dem syrischen Gebiet war eskaliert, nachdem im Februar dieses Jahres eine Großoffensive durch Luft- und Artillerieangriffe gestartet wurde, in deren Rahmen russische und syrische Kampfflugzeuge dort die heftigsten Luftschläge seit Beginn des Bürgerkrieges ausführten.
Auch bei einer der größten internationalen Frauenrechtskonferenzen, der Commission on the Status of Women (CSW) der UNO, die jährlich stattfindet und zur Geschlechtergleichstellung auf internationaler Ebene beitragen soll, waren Syrerinnen ausgeschlossen. Ursprünglich hätten bei der 62. Tagung der CSW, die Mitte März in New York abgehalten wurde, auch syrische Aktivistinnen und Journalistinnen zu Wort kommen sollen, konnten aber nicht einreisen.
Dies sind keine Einzelfälle. So sind SyrerInnen weltweit, die versuchen in Genf und New York vor den internationalen Gremien repräsentiert zu sein, von Reisebeschränkungen betroffen.
Auch wenn die meisten von ihnen den Glauben an eine internationale Lösung und an die Macht der UNO schon lange aufgegeben haben, müssten die Betroffenen unbedingt auf internationaler Ebene gehört werden und die Chance bekommen, sich an der Konfliktlösung zu beteiligen.
Mitte April hat die syrische Armee die völlige Rückeroberung der Rebellenbastion Ost-Ghouta verkündet. AktivistInnen hatten dies zunächst bestritten. In der Stadt Duma in Ost-Ghouta fand auch der mutmaßliche Giftgasangriff durch Assad statt, der die USA, Großbritannien und Frankreich zu einem Militärschlag veranlasste, bei dem syrische Ziele nun mit Raketen angegriffen wurden.
Unsichtbare Zivilgesellschaft. Auch in Syrien selbst liegt eine Strategie des Regimes darin, den Austausch und die Vernetzung von zivilen AktivistInnen zu unterbinden, sodass diese völlig zersplittert agieren müssen und dadurch oft handlungsunfähig gemacht werden. Somit wird die syrische Zivilgesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes immer unsichtbarer. „Historisch gesehen ist es im Interesse mancher internationalen AkteurInnen, die Öffentlichkeit glauben zu lassen, die einzigen Menschen, die noch in Syrien zurückgeblieben sind, seien ExtremistInnen, TerroristInnen, bewaffnete Gruppen und das Regime. Es herrscht der weitverbreitete Glaube, dass es keine Zivilgesellschaft in Syrien mehr gibt“, sagt Victoria Lupton, Vorstandsmitglied von „Women Now“ und Referentin bei der CSW-Konferenz, im an.schläge-Interview. Militärschläge lassen sich so leichter legitimieren.
Doch noch gibt es die Zivilgesellschaft – und sie lässt sich nicht mundtot machen. Auch wenn es im Moment erst einmal darum geht, die Belagerung und Bombardierung so rasch wie möglich zu beenden, wird die zeithistorische Dokumentation von Nivin Al Hotary und anderen einmal von großer Wichtigkeit sein. Damit könnten die Kriegsparteien in Syrien eines Tages für ihre Taten zur
Verantwortung gezogen werden.
„Zurzeit wird viel darüber geredet, dass der syrische Krieg zu einem Ende kommt, als hätte es nie eine Revolution gegeben. Wir treten dafür ein, dass es Gerechtigkeit für die enorme Gewalt, für die Zehntausenden Inhaftierten und für die endlosen Massaker geben muss, die seit dem Beginn der Revolution stattgefunden haben. Ohne diese Gerechtigkeit ist der Friede bedeutungslos“, sagt Victoria Lupton.
Kriegszustand. Die Realisierung dieses Zieles scheint im Moment jedoch in weite Ferne gerückt zu sein. Der Krieg in Syrien geht ins siebente Jahr und immer noch ist kein Ende in Sicht. Während Bomben, Unterernährung und Tod für viele SyrerInnen zum Alltag geworden sind, schaffen es Berichte darüber immer seltener in die Schlagzeilen. Zu wenig berühren die immerwährenden Schreckensmeldungen mittlerweile viele in den Ländern des globalen Nordens. Bei den komplizierten Verflechtungen der internationalen Kriegsparteien gerät das menschliche Leid außerdem oftmals in den Hintergrund. Umso mehr gewinnen die Stimmen von Al Hotary und anderen an Bedeutung: Sie erinnern daran, wie entsetzlich die Situation der syrischen Zivilbevölkerung mittlerweile ist. Denn während die RegierungsvertreterInnen des UNO-Sicherheitsrates den Verhandlungssaal verlassen und die bedrückenden Berichte hinter sich lassen können, ist das für die syrischen AktivistInnen unmöglich. Wird eine Sitzung vertagt, weil die internationale Gemeinschaft keine Einigung findet, bedeutet dies für die Bevölkerung eine weitere Verlängerung des unzumutbaren Belagerungszustandes. Für sie geht es um jede Sekunde.
Denn wenn die Skype-Verbindung endet, kehren Al Hotary und andere AugenzeugInnen in den kriegerischen Alltag zurück. Zurück in den Untergrund und in die Kellerabteile, die bloß vorübergehend Schutz bieten. Und während der Bombenhagel weitergeht, werden die AktivistInnen erneut jedes Risiko eingehen, damit die Außenwelt von den Geschehnissen in Syrien erfährt.
Julia Rainer ist Sprecherin des Frauenkomitees der Bundesjugendvertretung, der gesetzlichen Interessensvertretung von Kindern und Jugendlichen in Österreich. Sie nahm als NGO-Vertreterin und Teil der nationalen Delegation an der 62. Commission on the Status of Women in New York teil.