JEANETTE WINTERSON wurde in den 1980ern berühmt mit ihrer Coming-Out-Geschichte „Orangen sind nicht die einzige Frucht“, die inzwischen im Gender-Studies-Seminar analysiert wird. Auch IRMI WUTSCHER bekam den Roman einst auf der Uni zu lesen und erfährt nun im Interview mit der optimistischen Autorin, warum wir unbedingt weiterkämpfen müssen.
„Orangen sind nicht die einzige Frucht“, Wintersons erster Roman, handelt von einer jungen Frau, die als adoptiertes Kind in einer evangelikalen Freikirche aufwächst. Und die von dieser fundamentalistischen Gemeinschaft ausgeschlossen wird, als sie sich in eine Frau verliebt. Vieles davon deckt sich mit Jeanette Wintersons tatsächlicher Biografie. Allerdings kann man Winterson nicht auf lesbische Coming-Out-Literatur reduzieren, denn sie erforscht auch viele andere Formen von Begehren und Sexualität.
Das Thema der „Orangen“ hat sie 2011 noch einmal in ihrer Autobiografie „Warum glücklich, statt einfach nur normal?“ verarbeitet. Erzählt ihr Erstlingsroman noch die Geschichte einer Befreiung, geht die Autobiografie stärker auf die schmerzvollen Dinge ein: die Kämpfe mit der fanatischen Mutter, das Gefühl des Verlorenseins, weil sie adoptiert ist.
an.schläge: Ihr erster Roman handelt von ihrem Coming-Out. Ist es wichtig darüber zu schreiben, waren Sie da ein Vorbild?
Jeanette Winterson: Ja. Allerdings war das gar nicht der Gedanke dahinter. Ich war damals jung, 24, und ich schrieb einfach das Buch, das ich schreiben musste. Jetzt, dreißig Jahre später, ist
es großartig, Teil dieser Veränderung gewesen zu sein. Deswegen sage ich jungen Menschen immer: Seid Teil der Veränderung, die ihr selbst sehen möchtet! Wir haben schon so viel geschafft: Sklaverei wurde abgeschafft, Frauen haben das Wahlrecht, es gibt Toleranz gegenüber LGBTIs … Wir können immer Dinge voranbringen – niemand ist machtlos!
Müssen wir nicht auch wachsam sein, dass Dinge sich nicht wieder zurückentwickeln? Gerade wenn wir auf die rechtsgerichteten Regierungen in den USA und Europa blicken?
Wir können immer verlieren, was wir schon erreicht haben. Die Welt ist toleranter geworden – und für junge Menschen fühlt es sich vielleicht an, als wäre sie das immer gewesen. Deswegen ist Geschichtsunterricht in der Schule wichtig! Damit wir wachsam sind und unsere Freiheiten und unsere Demokratie beschützen. Eine Freundin von mir kommt aus Pakistan. Sie sagt, wenn du in einer Militärdiktatur großgeworden bist, dann kennst du Dinge wie Zensur, Überwachung, das langsame Unterminieren der persönlichen Freiheit. Wenn du in einer Demokratie lebst, bemerkst du das vielleicht nicht, bis es zu spät ist. Die sieht hier jetzt viel, was in Pakistan passiert ist: ein Zumachen, durch das diejenigen bestraft werden, die anders leben wollen. Mein dummes Land (Anm: Großbritannien) hat zum Beispiel für den Brexit gestimmt. Also ja, wir müssen kämpfen!
Die Wahlerfolge rechter Parteien unter ArbeiterInnen werden oft damit erklärt, dass diese sich nicht wahrgenommen fühlen von der Politik. Sie beschreiben in Ihrer Autobiografie das Leben der ArbeiterInnenschaft in Nordengland in den Siebzigerjahren. Was denken Sie über solche Erklärungsmuster?
Ja, ich komme aus der Arbeiterklasse. Und die Arbeiterklasse hat ihre Jobs seit den Siebzigern verschwinden sehen. Das wird mehr, je stärker die Automatisierung um sich greift. Auch Mittelklasse-Jobs werden verschwinden. Niemand weiß, was dann passiert. Ich denke, das könnte etwas Gutes sein. Denn das beendet das Gefühl einer entrechteten oder übersehenen Arbeiterklasse, weil sich die ganze Idee von Arbeit für immer geändert hat! Dann können wir uns vielleicht auf ganz andere Art zusammentun. Ich liebe zum Beispiel die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Denn ich denke, dass der Kapitalismus unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen wird. Und wenn niemand mehr Geld hat, um sich Dinge zu kaufen, was passiert dann? Für junge Menschen ist jetzt die spannendste Zeit, auf der Welt zu sein!
Oder die schrecklichste.
Natürlich, es ist wirklich beängstigend! Der Grund für den Backlash ist, dass die Reichen und die, die so lange an der Macht waren, diese Änderung spüren! Die haben Angst und wissen nicht, was sie tun sollen. Das ist der Moment für alle anderen, weiter voranzudrängen und zu kämpfen.
Zurück zu Ihrer Autobiografie: Sie behandelt das gleiche Thema wie die Orangen. Ich hatte aber das Gefühl, sie ist dunkler, trauriger …
Ja, sie ist dunkler! In meinem Werk findet sich sonst viel Comedy. Ich finde, die Leute müssen mehr lachen, auch über schreckliche Dinge. Ich habe viel Humor, ich lache oft über mich selbst, wenn ich wieder mal ein Idiot war. Aber im Buch „Warum glücklich, statt einfach nur normal?“ – der Satz, den meine Mutter mir an den Kopf warf, als ich zu Hause auszog, weil ich mich in ein anderes Mädchen verliebt hatte –, geht es um das Leid und die Selbstzweifel, die alle jungen Menschen durchmachen. Das Gefühl, entfremdet zu sein von der Welt. Das ist Teil des Erwachsenwerdens, wir alle haben das! Das sollten jungen Menschen wissen: Das Leben ist schwierig, das Leben ist kompliziert, das Leben ist nicht Facebook, wo alle eine super Zeit haben. Vielleicht sollten wir das mehr sagen!
Sie schreiben auch über Ihre psychische Erkrankung als etwas, das man überstehen kann. Wie war es für Sie, darüber zu schreiben?
Ich denke, alle von uns kämpfen zu gewissen Zeitpunkten ihres Lebens mit verschiedenen Graden psychischer Erkrankung. Die Gefährlichen sind die, die es nicht wissen! Donald Trump etwa ist psychisch erkrankt: Er besitzt keinerlei Empathie – das ist Zeichen einer psychischen Erkrankung! Die Gefährlichen sind die, die sagen: „Mir geht’s gut!“ Weil: Es geht uns nicht gut. Geistige Gesundheit ist oft fragil und veränderlich. Menschen verlieren ihren Job, den_die Partner_in, ein Kind … Niemand geht durchs Leben ohne Traumatisierungen! Wir wären eine bessere, stärkere, geistig gesündere Welt, würden wir das anerkennen. Viele Menschen, die mit psychischer Krankheit kämpfen, haben interessante Arbeiten und gute Dinge geschaffen! Wir sollten nur nicht Leute unter Medikamente setzen und so tun, als gäbe es das alles nicht. Wir können damit arbeiten, nicht dagegen! Und einen Weg zur Heilung finden.
Ich habe das erste Mal ein Buch von Ihnen an der Uni gelesen, in einem Women’s-Studies-Seminar. Wie stehen Sie dazu, dass Ihre Werke unter „feministischer Literatur“ oder „Frauenliteratur“ in den Kanon eingehen?
Ich hasse Schubladisierungen jeglicher Art. Früher wurde ich über so etwas wütend. Männer glauben ja, sie schreiben für alle, und Frauen schreiben nur für verschiedenste Untergruppen von Frauen. Männer lesen tatsächlich keine Bücher, die von Frauen geschrieben wurden! Weil sie arrogant sind und denken, dass Frauen nichts Interessantes zu sagen hätten. Dieses Problem schaffen wir nur langsam aus der Welt. Ich bin aber wirklich stolz, ein Teil des Feminismus und der Equal-Rights-Bewegung zu sein! Ich stehe gerne auf einer Plattform mit allen, die sich nicht gehört, missverstanden, unterdrückt fühlen … Und wenn meine Bücher da auch hingehören, ist das okay. Wenn ein paar dumme, weiße Typen das nicht kapieren, kümmert mich das? Nein!
Irmi Wutscher ist Journalistin bei Radio FM4.
Jeanette Winterson: Wunderweiße Tage. Zwölf winterliche Geschichten.
Wunderraum 2017.