Die Reserve-Astronautin Carmen Possnig würde sofort zum Mars fliegen und hat zur Vorbereitung schon ein Jahr in der Antarktis gelebt. Mit LEA SUSEMICHEL hat sie über vier Monate Dunkelheit, das Altern im All und die gewaltige Inspirationskraft des Weltraums gesprochen.
an.schläge: Sie sind offiziell Reserve-Astronautin, aber recht zuversichtlich, dass Sie zum Einsatz kommen werden. Bei welchen Missionen könnte das sein? Besteht z. B. Hoffnung, dass Sie zum Lunar Gateway fliegen dürfen? (Der Lunar Orbital Platform-Gateway ist eine geplante Raumstation, die als Zwischenstation für die bemannte Mondlandung und zur Vorbereitung von Marsmissionen dienen soll, Anm.)
Carmen Possnig: Der Lunar Gateway wäre natürlich ein Traum. Aber im Moment scheint es eher realistisch, dass wir für eine Kurzzeitmission zur Internationalen Raumstation ISS fliegen.
Sie sind unter 25.000 Bewerber:innen in einem sechsstufigen Aufnahmeverfahren, bei dem die physische und psychische Eignung getestet wird, ausgewählt worden. Vor einem Einsatz gäbe es noch ein Jahr lang ein intensives Training. Wovor hätten Sie dabei am meisten Angst?
Wir bekommen von der ESA (Europäische Weltraumorganisation, Anm.) Ende des Jahres eine Art Überblickstraining, da ist dann auch das Unterwasser-Training für einen Außeneinsatz im All dabei. Davor hätte ich zwar keine Angst, aber am meisten Respekt. Es wäre aber natürlich auch wahnsinnig cool: Wenn nichts mehr zwischen einem selbst und dem Weltraum und der Erde da unten ist, das muss ein unglaublich tolles Gefühl sein. Das wird immer als Highlight jeder Mission beschrieben. Das Training für konkrete Missionen ist aber sehr spezifisch darauf zugeschnitten, es wird genau das geübt, was man dann konkret machen soll, und bei so kurzen Missionen ist es sehr unwahrscheinlich, dass es einen Außeneinsatz gibt.
Hatten Sie schon mal einen Raumanzug an?
Nein, noch nie. Darauf freue ich mich.
Der erste All-Außeneinsatz zweier Astronautinnen ist kürzlich gescheitert, weil es nur einen einzigen passenden Raumanzug für die beiden auf der ISS gab.
Ja, die kommen tatsächlich vor allem in den amerikanischen XL- und XXL-Größen. Inzwischen gibt es aber bessere Anzüge und auch die Außeneinsätze mit rein weiblicher Besatzung haben stattgefunden. Die ESA-Astronautin Samantha Cristoforetti hatte aber ein ähnliches Problem, weil sie relativ kleine Hände hat und ihr keine Handschuhe gepasst haben. Es ist aber ganz wichtig, dass die perfekt sitzen, damit man mit diesen dicken Handschuhen und dem großen Druckunterschied im All, der jede Bewegung wahnsinnig anstrengend macht, überhaupt arbeiten kann.
Sie war sechs Monate oben, ein Versorgungsschiff sollte ihr extra angepasste Handschuhe bringen, ist aber auf dem Weg explodiert. Sie hat von der Raumstation aus gesehen, wie es in Flammen aufgeht, damit war auch der Außeneinsatz gestorben.
Als sie zum zweiten Mal hochgeflogen ist, hatte sie die Handschuhe quasi im Handgepäck dabei. Dann hat es endlich geklappt mit dem Außeneinsatz.
Sie haben 13 Monate lang in der Antarktis gelebt, bei Außentemperaturen von bis zu minus achtzig Grad, vier Monate davon in völliger Dunkelheit, in völliger Isolation vom Rest der Welt. Im Auftrag der Europäischen Weltraumorganisation sollten Sie und ein kleines Forschungsteam herausfinden, wie sich Menschen unter solchen extremen Bedingungen verändern, auch im Hinblick auf künftige Mars-Expeditionen. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Es hat sich z. B. gezeigt, dass die Aktivität des Immunsystems massiv zurückgeht, vor allem in den Monaten ohne Sonneneinstrahlung.
Bei minus achtzig Grad überlebt eigentlich nichts, was den Menschen gefährlich werden könnte, und gleichzeitig sind es für ein Jahr immer dieselben 13 Leute, es kommt also auch hier kein neuer Erreger dazu. Das Immunsystem ist aber wie ein Muskel, der regelmäßig trainiert werden muss. Als die Isolationsphase vorüber war und das erste Flugzeug mit neuen Leuten gelandet ist, von denen einer einen kleinen Schnupfenvirus mitgebracht hat, haben die Immunsysteme meiner Crew völlig überreagiert, die Hälfte ist tagelang mit hohem Fieber im Bett gelegen.
Ein anderes Experiment hat die kognitiven Fähigkeiten und die Feinmotorik getestet. Wir hatten dafür ein ziemlich komplexes Computerspiel mit einem Simulator, bei der wir mit einem Raumschiff mittels Joysticks an einer Raumstation andocken mussten. Man wollte damit herausfinden, wie oft während der achtmonatigen Reise trainiert werden muss, um ein Raumschiff auf dem Mars sicher landen zu können und auch wieder zurückzukommen. Ich habe mir angeschaut, wie sich die Fähigkeiten im Laufe der Zeit verändern. In den dunklen Monaten hat sich die Leistung deutlich verschlechtert.
Bei einer Marsexpedition gilt das menschliche Verhalten als großer Risikofaktor. Sie haben in einem Interview mal gesagt, dass man nicht wissen könne, wie Menschen psychisch darauf reagieren, wenn sie auf dem Weg zum Mars die Erde als Stern am Horizont verschwinden sehen. In der Forschungsstation am Südpol sollte mit Kälte und Dunkelheit auch die „sensorische Deprivation“ nachempfunden werden, die Menschen im All erleben. Über acht Monate gab es auch in der Antarktis keine Möglichkeit, abgeholt zu werden, selbst bei einem medizinischen Notfall nicht. Da muss man psychisch schon sehr stabil sein, um das gut wegzustecken. Wie haben denn die Leute reagiert?
Sehr, sehr unterschiedlich. Dabei spielt auch die Motivation, warum man etwas tut, eine große Rolle. Wenn Leute dafür brennen, weil sie vom Sinn der Sache überzeugt sind, weil sie damit etwas zur Klimawandelforschung beitragen oder zur Sicherheit vor Erdbeben oder bei mir halt zur Weltraumforschung, dann ist das wahnsinnig hilfreich.
Wir hatten einen dabei, der wollte sich mit dem Verdienst vor allem seine Pension aufbessern, aber Geld als Motivation reicht nicht, dem ging es richtig schlecht, für ihn war es schlimmer als Gefängnis. Es waren also durchaus Leute dabei, die sehr gelitten haben und die tatsächlich abgefahren wären, wenn das möglich gewesen wäre.
Was man unbedingt auch braucht, sind Strategien, um Stress zu verarbeiten, ohne fremde Hilfe. Einige Extrovertierte im Team, die für Stressabbau normalerweise auf eine Party gehen oder sich mit ihren Freunden treffen, waren auch arm dran, denn das funktioniert dort halt leider nicht.
Alle Teilnehmenden haben sich verändert über das Jahr, aber es wurde sehr deutlich, dass einzelne von ihrer Persönlichkeit her sehr viel besser geeignet sind, um mit so einer Isolationssituation gut zurechtzukommen und auch mit dieser extremen Umwelt und dem permanenten Risikogefühl.
Aber ich glaube, wenn man die richtigen Leute aussucht, dann ist es auch kein Problem, zum Mars und wieder zurückzufliegen, auch wenn das drei Jahre dauert.
Würden Sie mitfliegen?
Ich würde auf jeden Fall mitfliegen! Sofern es auch einen Rückflug gibt.
Als Medizinerin forschen Sie dazu, wie sich menschliche Körper verhalten, wenn sie der Schwerelosigkeit ausgesetzt sind.
Das All lässt den Körper viel schneller altern, was genau passiert dabei? Und gibt es dabei auch geschlechtsspezifische Auswirkungen?
Ich schaue mir vor allem an, wie sich das Herz-Kreislauf-System verändert, der Blutfluss ins Gehirn und in die Augen. Das kann zu Weitsichtigkeit führen, zum „Spaceflight-Associated Neuro-Ocular Syndrome“ (SANS). Bis jetzt weiß man aber nicht so wirklich, warum manche Menschen stärker betroffen sind und andere gar nicht, und warum die Weitsichtigkeit bei manchen auf der Erde bestehen bleibt und bei anderen nicht, und vor allem: was man dagegen tun könnte.
Bei einer Mars-Expedition wäre die Crew drei Jahre unterwegs. Sollte die Weitsichtigkeit dabei immer weiter voranschreiten, kann es sein, dass jemand irgendwann blind ist, das wäre natürlich fatal für so eine Mission. Anfangs dachte man, dass Frauen nicht betroffen sind, weil die Weitsichtigkeit exklusiv bei Männern aufgetreten ist. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass einfach viel zu wenige Frauen in der Statistik drin waren. Inzwischen ist klar, dass leider auch Frauen dieses Syndrom bekommen.
Es kommt auch zu massivem Muskelschwund und Osteoporose, oder?
Ja, Muskelkraft und Muskelmasse schwinden, weil die Muskeln wenig gebraucht werden, die Knochendichte nimmt ebenfalls ab. Da wäre es auch interessant zu sehen, wie sich das bei Astronautinnen nach der Menopause auswirkt, aber da gibt es natürlich noch viel weniger Daten.
Was entgegnen Sie auf Kritik daran, dass so viel Geld in Raumfahrtprogramme gesteckt wird, obwohl wir es dringend bräuchten, um die Probleme hier auf der Welt zu lösen, nicht zuletzt die Klimakatastrophe. Was hilft es uns auf der Erde, wenn wir zum Mars fliegen?
Durch unseren Wunsch, zum Mars zu fliegen, können wir viel lernen – auch, wie wir auf der Erde besser leben können. Wir können ja nicht genug Nahrung, Sauerstoff und Wasser mitnehmen für diese drei Jahre, so ein großes Raumschiff gibt es gar nicht, sondern wir brauchen eine Kreislaufwirtschaft, die alles erzeugt, was wir zum Überleben brauchen. Auf der ISS gibt es z. B. ein System zum Wasser-Recycling, bei dem fast 95 Prozent wiederverwendet werden können.
Auch der Urin wird recycelt.
Ja, auf dem amerikanischen Teil der ISS wird auch der Urin recycelt. Die Russen wollen das nicht. Das System kommt inzwischen aber auch in der Antarktis zum Einsatz und auch in Marokko und Algerien und in ein paar Wüstenregionen, die extrem wasserarm sind. Und das ist nur eine von ganz vielen Spin-off-Technologien, die wir dank der Raumfahrt inzwischen haben. Die ISS ist ja ein riesiges Labor, in dem man Dinge erforschen kann, die man auf der Erde nicht erforschen könnte. Auch zu erneuerbaren Energien und wie wir mit der Klimakatastrophe fertig werden können. Über 75 Prozent aller Daten zum Klimawandel kommen aus dem Weltall, ohne sie wüssten wir gar nicht, dass es eine Klimakatastrophe gibt.
Ein ganz wichtiger Punkt bei der astronautischen Erforschung des Weltalls ist außerdem die Inspiration – die Weltraumforschung begeistert die Menschen immer schon und reißt sie mit, über alle Generationen hinweg. Sie kann junge Leute dazu bringen, sich für Naturwissenschaften zu interessieren und sie zeigt uns, dass Krisen nicht ausweglos sind – dass nichts unmöglich ist.
Ihnen ist es auch wichtig, ein Vorbild für Mädchen zu sein und diese für MINT-Fächer zu begeistern. Sie sprechen dabei zwar immer wieder vom Forscher- und Entdeckergeist, der geweckt werden soll, aber anders als bei den großen Entdeckern oder dem „Space Race“ zwischen Russland und den USA, geht es nicht mehr um heroische Einzelkämpfer, sondern um Teamfähigkeit, Kooperation und verschiedene Perspektiven.
Ja, dieser Unterschied ist mir sehr wichtig: Ein Astronaut ist niemand, der irgendwo rauffliegt, um dort ein Selfie zu schießen, und dann wieder runterfliegt. Als Astronauten und Astronautinnen erforschen wir Dinge in einem Team, betreiben Wissenschaft und entwickeln Technologien. Wir vermehren Wissen, das andere begeistern kann.
Carmen Possnig: Südlich vom Ende der Welt. Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50 Grad hat: mein Jahr in der Antarktis, Ludwig Verlag 2020
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