Zilan hat gegen den IS gekämpft. Heute lebt sie in Nordostsyrien. Die Region wird immer wieder von türkischen Drohnen angegriffen, auch in den vergangenen Monaten. Ein Besuch bei einer Kommandantin der kurdischen Frauenverteidigungseinheit YPJ. Von Linda Peikert
Die Sonne knallt auf den sandfarbenen Lehmboden. Es hat über vierzig Grad. Die Landschaft ist flach, am Horizont sind hier und da ein paar einstöckige Häuschen zu sehen, die mit der Landschaft farblich verschmelzen. Zilan sitzt auf einer Terrasse, die mit Schilfrohren vor der heißen Sonne abgeschirmt ist.
Sie wohnt hier gemeinsam mit anderen jungen Frauen der kurdischen Frauenverteidigungseinheit YPJ. In dem kleinen Häuschen werden die Räume gemeinschaftlich genutzt. An den Wänden hängen Plakate gefallener Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG.
Auf der Terrasse wird schwarzer Tee in kleinen Gläsern serviert. Zilans dunkles, volles Haar hat sie zu einem Knoten zusammengebunden. „Ich habe vieles gesehen. Und deshalb bleibt mir auch nichts anderes, als hier weiter für die Freiheit der Kurd*innen zu kämpfen“, sagt sie bestimmt.
Kurdische Identität. Zilan ist Kurdin und wuchs bis zu ihrem elften Lebensjahr im Süden der Türkei auf. Dann zog sie mit ihrer Familie in eine deutsche Großstadt. Nach der Schule absolvierte sie eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin, hatte einen Job, einen Partner, ein gutes Leben. Ihre kurdische Identität hatte für sie immer eine wichtige Bedeutung und war positiv besetzt – obwohl sie es deshalb nicht immer leicht hatte. Sie erzählt von Diskriminierung und Schlägen in ihrer Schulzeit in der Türkei; von einer Lehrerin in Deutschland, die ihr verboten hat, ein Referat über Kurdistan zu halten; von einem türkischstämmigen Patienten, der sie während ihrer Arbeit in einer Praxis angegriffen hatte. Mit Anfang zwanzig fasst sie den Entschluss: Sie will nach Kobanê, in die kurdische Stadt Nordsyriens, aus der ihre Großeltern stammen. Als sie dort Anfang 2011 ankommt, herrscht Aufbruchstimmung. Die kurdische Bevölkerung im Norden Syriens beginnt sich gegen das restriktive, aber vom arabischen Frühling geschwächte System aufzulehnen. Zilan arbeitet auch dort als Krankenpflegerin, fühlt sich zu Hause. Sie hat Verbindungen zu kurdischen Aktivist*innen, die sich gegen Präsidenten Assad organisieren.
Grausame Bilder. Doch dann gehen im August 2014 grausame Bilder um die ganze Welt: Die jihadistische Terrormiliz IS greift das größte Siedlungsgebiet der Jesid*innen im Nordirak an. Männer werden geköpft, Frauen sexuell ausgebeutet und verkauft, Kinder misshandelt. „Für mich war klar, dass ich hinfahren und helfen muss“, sagt Zilan. Wenige Monate später ist sie dort, lässt sich militärisch ausbilden und kämpft in der neu gegründeten, jesidischen Verteidigungseinheit. „Die Bilder aus Shengal gehen nicht mehr aus meinem Kopf“, sagt sie. Sie hat gegen IS-Terroristen gekämpft, IS-Kindersoldaten festgenommen. „Es war schrecklich, diese Kinder zu sehen“, sagt Zilan. Viele von den damals festgenommenen IS-Kindern und -Frauen leben heute im Lager Al-Hol in Nordostsyrien. Kinder hätten von der gleichen Ausbildungstortur berichtet: Erst hätten sie ein Tier köpfen und dann nächtelang mit dem abgeschlagenen Tierkopf im Arm schlafen müssen. Danach mussten sie dasselbe mit einem vom IS gefangen genommenen Menschen tun.
Neben dem aktiven Kampf gegen den IS und der Befreiung der Zivilist*innen mussten auch die Häuser gesichert werden, aus denen die Terroristen schon vertrieben waren. „Ich erinnere mich an ein Haus mit rutschigem Boden. Als wir die Taschenlampe anmachten, sahen wir, dass wir mitten in einer Blutlache standen“, sagt Zilan. „Neben meinem Fuß lag ein abgetrennter Kopf, ein Zimmer weiter hatten sich wohl mehrere Frauen zum Tee verabredet. Ihnen allen wurde der Kopf abgeschnitten.“ Bei einer dieser Häusersicherungen ging eine Mine hoch. Sie wurde schwer verletzt. Heute hat Zilan mehrere Metallplatten implantiert. Doch sie hört nicht auf. Möchte nicht zurück nach Deutschland. „All die schrecklichen Bilder geben mir mehr die Kraft, um weiterzumachen“, sagt sie. Der Kampf gegen die jihadistischen Feinde ist schwierig. Immer wieder findet sie Aufputschmittel und Testosteronspritzen in den Taschen der Terroristen. Sie sind skrupellos, fürchten den Tod nicht, schließlich soll er sie zu Gott bringen. Doch der eigene Glaube wird zum Fallstrick: Frauen gelten als „haram“, also unrein. Wer von einer Frau getötet wird, verliert sein Ticket in den Himmel. „Die IS-Kämpfer hatten vor uns bewaffneten Frauen Angst“, sagt Zilan und ein triumphierendes Lächeln umspielt ihre Lippen.
Zilan erinnert sich aber auch, dass viele der traditionell-jesidischen Familien ihre vom IS verschleppten Töchter erstmal nicht zurücknehmen wollten: Sie seien durch die IS-Männer „beschmutzt“. Auch die kurdisch-jesidischen Sicherheitseinheiten hatten Angst, dass die Familien andernfalls ihren eigenen Töchtern etwas antun könnten. „Wir haben die befreiten Frauen in Sicherheit gebracht und mit den Familien viel Aufklärungsarbeit geleistet, bis sie erkannt haben, dass ihre Töchter an den Übergriffen der Jihadisten keine Schuld tragen“, sagt Zilan. Es sei wichtig gewesen, nicht nur den IS zu besiegen, sondern auch die jesidische Frauenfeindlichkeit. Aber das sei den Einheiten gut gelungen, die Bildungsarbeit habe funktioniert.
2019 gilt der IS als besiegt, doch nun wird das nordsyrische Serekaniye von der Türkei angegriffen. Zilan entscheidet sich, nach Nordostsyrien zu gehen und der YPJ, der Frauenmilitäreinheit der selbstverwalteten Region Rojava, beizutreten. Heute ist sie Kommandantin.
„Wie kann das sein?“ Gegenwärtig sind drei Bezirke der ethnisch pluralen Selbstverwaltung in Nordostsyrien unter türkischer Besatzung. „Die Menschen in den besetzten Gebieten erleiden dasselbe wie unter der IS-Besatzung: Viele Frauen verschwinden, Menschen werden gefoltert und ermordet“, sagt Zilan und zeigt ein Foto auf ihrem Smartphone. Auf dem Bild ist eine Frau in rosafarbener Kleidung zu sehen, die mit einem Strick um den Hals aufgehängt wurde. Ihr Kopf fällt leblos nach vorne. „Das war letzte Woche in der türkisch besetzten Stadt Afrîn“, sagt Zilan und steckt das Handy wieder ein. In diesen Gebieten würde nicht nur das türkische Militär Gräueltaten verüben, auch der IS erstarke wieder. „Wir wissen zum Beispiel, dass bei einem großen Befreiungsversuch von IS-Gefangenen im Januar dieses Jahres die Angreifer aus den türkisch besetzten Gebieten kamen und nach der Operation dort wieder Unterschlupf gefunden haben“, sagt sie.
Eine weitere Herausforderung: Die Unterbringung tausender IS-Kämpfer. Viele von ihnen kommen nicht aus der Region, aber ihre Herkunftsländer nehmen sie nicht zurück. Seit 2017 wurden laut offiziellen Zahlen der Selbstverwaltung in Nordostsyrien gerade mal sieben männliche IS-Mitglieder zurückgenommen – alle von Indonesien. „Die überfüllten Gefängnisse sind wie eine Granate: Sie können jeden Moment explodieren und tausende gefährliche Jihadisten strömen heraus“, sagt sie. „Und die werden nicht nur hier im Nahen Osten bleiben, die gehen dann auch zurück in ihre Herkunftsländer in Europa“, fügt sie hinzu.
Vier Tage später: Drei Frauen werden bei einem türkischen Drohnenangriff getötet. Sie saßen im Auto, auf der Rückfahrt von einer Frauenkonferenz in der kurdischen Stadt Quamishlo. Alle drei gehörten zur Fraueneinheit YPJ, zwei von ihnen waren auf die Bekämpfung des IS-Terrors spezialisiert. Solche Angriffe passieren regelmäßig, fast täglich. Die Drohnen fliegen über die vier Meter hohe Grenzmauer, spähen ihr Ziel aus und töten dann auf Knopfdruck. „Eine der drei Freundinnen war gerade auf dem Weg hierher, um uns zu besuchen.“ Zilans Blick wird leer. „Ich verstehe das nicht“, sie drückt eine Zitrone über ihrer Teetasse aus, quetscht sie noch ein bisschen stärker zusammen. „Ich verstehe das nicht! Wie kann es sein, dass die Kurd*innen mit viel Verlust den IS bekämpft haben, womit sie der Weltgemeinschaft einen großen Gefallen getan haben – und jetzt?“ Sie richtet den Blick auf. „Jetzt tötet ein Nato-Staat genau diese mutigen Frauen und niemand tut etwas dagegen.“ •
Linda Peikert arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Feminismus, soziale Gerechtigkeit und Außenpolitik. Letztes Jahr war sie für eine Recherche über die Rolle der Frau in Nord- und Ostsyrien unterwegs. Nach dieser Reise ist auch ihr Podcast „Ihr Wille als Waffe” entstanden.