Dammrisse, Inkontinenz von Stuhl und Harn, Einrisse in der Beckenbodenmuskulatur: Viele Frauen werden
nach der Geburt schlecht nachversorgt. Darüber gesprochen wird selten, die Patientinnen damit oft alleingelassen. Von Julia Pühringer
Regina K. (Name von der Redaktion geändert) ist Physiotherapeutin. Sie betreut Frauen nach einer Geburt: Sie kommt dort zum Einsatz, wo das System versagt hat. Ihre Klientinnen kommen mit Diagnosen in die Praxis, über deren Bedeutung sie nie aufgeklärt wurden, oft haben sie bei der Geburt Schlimmes erlebt. Vielen fehlen die Worte, um zu beschreiben, was während der Geburt passiert ist und wie es ihnen geht. Häufig zieht Regina eine Psychotherapeutin hinzu. Sie erklärt alles, was sie tut, Schritt für Schritt, bittet für jede einzelne Berührung um Erlaubnis.
Es greift ein System des Beschönigens und Verschweigens. Gesellschaftlich aufrechterhaltene Trugbilder von perfekten vaginalen Geburten, wunderbaren Stillbeziehungen und binnen Tagen wundersam verheilenden Frauenkörpern sorgen dafür, dass sich viele Mütter als Versagerinnen wahrnehmen: Nur bei ihnen scheint nicht zu funktionieren, was die Natur doch so schön und glücklich machend eingerichtet hat. „Es kann sich physiologisch nicht ausgehen, was von Müttern erwartet und auf Instagram propagiert wird: eine ausgeschlafene, fröhliche Frau mit flachem Bauch, an deren Körper und Seele sowohl Schwangerschaft als auch Geburt und die darauffolgende komplette Lebensumstellung völlig spurlos vorübergegangen sind“, sagt Regina.
IN FLIPFLOPS AUF DEN GROSSGLOCKNER. Viele Frauen wissen nicht, was bei einer vaginalen Geburt auf sie zukommen kann. Auch im Geburtsvorbereitungskurs werden mögliche Komplikationen selten thematisiert. „Vor jeder Operation werden Patient:innen aufgeklärt. Niemand würde einer Operation zustimmen, ohne die Risiken zu kennen oder abgewogen zu haben. Vor jeder Bergtour informiert man sich über die Route, mögliche Schwierigkeiten und entscheidet danach. So sollte es bei Geburten auch sein. Man muss sein persönliches Risiko kennen, um darauf reagieren und die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Es wäre die Aufgabe von Ärzt:innen und Hebammen, sachlich, unaufgeregt und ehrlich mit den Schwangeren zu kommunizieren“, so beschreibt eine Patientin von Regina, was sie gebraucht hätte. „So wie es jetzt läuft, ist es so, als würde man in Flipflops auf den Großglockner gehen“, bleibt Regina bei der Metapher.
„FREU DICH DOCH!“ „Es gibt ein Tabu, darüber zu reden, dass etwas scheiße läuft, dass der Körper nicht funktioniert und dass es Frauen deshalb auch einfach sehr schlecht geht“, sagt Regina. Bei ihr sitzen die Patientinnen dann mit Tränen in den Augen in der Praxis. „Dammriss 3“ steht auf ihrem Befund. Ab dem dritten Grad ist beim Dammriss, einer Verletzung des Bereichs zwischen Scheidenrückseite und Darmausgang, der anale Schließmuskel teilweise oder ganz gerissen. Es braucht Mut, davon zu erzählen. Vom herabwürdigenden Erlebnis, in der Öffentlichkeit plötzlich Stuhl an ihren Beinen entlangrinnen zu spüren und ihn auch zu riechen. Von der Hilflosigkeit. Dabei hätte die dazu führende Verletzung manchmal verhindert werden können. Bei Faktoren wie einem Kindsgewicht über vier Kilogramm steigt das Risiko für Dammverletzungen. „Das Gewicht meiner Tochter wurde falsch eingeschätzt. Bei dem Gewicht hätte man mich über das Risiko einer natürlichen Geburt aufklären und zumindest einen Kaiserschnitt ‚anbieten‘ müssen“, erzählt eine von Reginas Patientinnen. Der Ablauf der Geburt hat sie verstört und traumatisiert zurückgelassen. Sie spricht von einer „Schockstarre“, dem „Gefühl des Ausgeliefertseins“. Auch das Umfeld reagiert oft mit Unverständnis. „Freu dich doch!“, heißt es dann.
Diese Vereinzelung kennt Regina aus ihrer Praxis gut. Die Tabuisierung des Themas verhindert zusätzlich, dass sich Frauen austauschen oder auch Rechenschaft vom Krankenhaus fordern. Dafür, sich zur Wehr zu setzen, lässt ihnen ihre aktuelle Lebenssituation meist nicht die Kraft. Selbst wenn Patientinnen, um sich Klarheit zu verschaffen, den Geburtsbericht anfordern, steht oft nicht darin, was sie erlebt haben. Da fehlt dann beispielsweise die Anwendung des Kristeller-Griffs, bei dem Druck auf den Bauch ausgeübt wird, um das Kind herauszudrücken. Er wird inzwischen nicht mehr empfohlen, aber immer noch angewendet. Ein mündlich bestätigter Dammriss vierten Grades ist im Protokoll plötzlich nur mehr „3b“. Wenn Fehler passieren, werden sie oft nicht protokolliert. „Es existiert nicht, dass man einen Fehler macht“, erzählte ihr eine Gynäkologin aus dem Krankenhaus. „Und wenn, dann dürfen wir es unter gar keinen Umständen zugeben.“ Eine Patientin bekommt vom zugezogenen Gutachter, der gar nicht vom Fach ist, zu hören: „Glauben Sie wirklich, dass ein Kollege von mir einen Fehler gemacht hat?“
AUF BIEGEN UND BRECHEN. Was muss sich ändern? „Im Grunde beginnt das im Kindergarten. Schon Mädchen müssen Begriffe für ihre Sexualorgane haben. Das ist eine wichtige Prophylaxe generell. Frauen müssen ihren Körper richtig wahrnehmen können“, sagt Regina. „Wir müssen über den Vorgang der Geburt ehrlich reden, damit Frauen informiert Entscheidungen treffen können.“ Sie rät werdenden Eltern, sich selbst schlau zu machen, mit einer umfassenden Aufklärung dürfe man nicht rechnen.
Ein weiteres Problem: „Wir pressen diesen biologisch komplexen Vorgang, der auf verschiedene Weisen ablaufen kann und seine eigene Zeit braucht, in eine rigorose Struktur, der er sich auf Biegen und Brechen anzupassen hat.“ „Ich hatte das Gefühl, eine Nummer zu sein, die nach Zeitplan ein Kind gebären soll“, erzählt eine Patientin. „Mir hat der Arzt, der sich nicht einmal vorgestellt hat, zuerst in die Vagina gegriffen, bevor er mir überhaupt ins Gesicht geschaut hat“, erzählte eine andere. Krankenhäuser haben zudem einen streng hierarchischen Aufbau, an dem die, die oben sind, gerne festhalten, auch aus finanziellen Gründen. Wünschenswert wären interdisziplinäre Führungsteams. „Im Mittelpunkt muss die Frau stehen, schon in der Schwangerschaft, und so betreut werden, wie sie es braucht, da gehören die Hebammen dazu, die Ärzt:innen, die Physiotherapeut:innen, auch die Psycholog:innen und die Pflege natürlich“, fasst es Regina zusammen.
Stattdessen werden Personen, die Missstände aufzeigen und ansprechen, bedroht. Ohne Fehlerkultur und genaue Dokumentation ist keine Veränderung in der Praxis möglich. Auch eine gewisse Abstumpfung den Gebärenden und ihrer Schmerzen gegenüber macht sich bemerkbar – anders kann dieses System gar nicht aufrechterhalten werden.
„WIE BEIM FLEISCHHAUER.“ Zum Tragen kommt auch die ständige Abwertung des weiblichen Körpers. Es ist nicht selbstverständlich, dass auf die korrekte anatomische Rekonstruktion des Körpers von Müttern überhaupt Wert gelegt wird – als hätte es keine Bedeutung, dass Frauen mit ihrem Körper, ihren Vulven, weiterhin Freude und Wohlbefinden empfinden wollen. Regina hat auch schon schief zusammengenähte Vulvalippen in ihrer Praxis erlebt. Andere Patientinnen haben starke Schmerzen, weil Muskeln oder Schleimhaut nicht gut vernäht wurden. Einmal hat sie sich bei einer vaginalen Untersuchung gestochen, weil sich noch ein Nadelfragment im Körper der Patientin befand. Oder es wurde so viel Nahtmaterial verwendet, dass die Gleitfähigkeit des Gewebes nicht mehr gegeben war. „Es ist wie beim Fleischhauer“, sagt sie, wenn sie sich erinnert. „Dass dieser wichtige und große Moment in so einer Weise abläuft, ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.“
Lektüreempfehlung:
Martina Lenzen-Schulte:
„Untenrum Offen: Der Beckenboden nach der Geburt. Verharmlost – ignoriert – tabuisiert“
Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreich: kontinenzgesellschaft.at
Berichte über den früheren Umgang mit Frauen in Krankenhäusern, gesammelt von Wiener Feministinnen der 70er-Jahre,
finden sich im Sammelband