Gas- und Strompreise schießen in die Höhe, auch Lebensmittel und Wohnen werden teurer. Immer mehr Menschen sind akut von Armut betroffen oder bedroht. Zwei Frauen erzählen, wie es ihnen damit geht. Von Anna Lindemann
Auf ihrem Kontaktbild posiert Marcella Reyes mit ihrem Sohn im Arm vor einem See, beide lachen in die Kamera. Am Telefon hingegen klingt sie nicht so unbeschwert. „Ich mache mir große Sorgen, dass ich mich wegen der steigenden Energie- und Wohnkosten verschulden muss“, sagt sie.
Gemeinsam mit ihrem acht Jahre alten Kind wohnt sie in einer Zweizimmerwohnung in Hamburg. Während ihr Sohn in der Schule ist, arbeitet sie als Kosmetikerin, nachmittags muss sie die Betreuung übernehmen. Alleinerziehend, Teilzeit angestellt im Niedriglohnsektor – und jetzt die Preissteigerungen. Trotz ihrer Anstellung kommt sie nur schwer über die Runden. Marcella Reyes und ihr Sohn sind akut von Armut bedroht.
Seit den massiven Preissteigerungen betrifft das immer mehr Menschen: Eine Analyse des Fiskalrats zeigt, dass aktuell rund 35 Prozent der österreichischen Haushalte ihre durchschnittlichen Konsumausgaben nicht mit ihrem monatlichen Einkommen finanzieren können. Das ist ein Anstieg um zehn Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr. Tatsächlich von Armut bedroht sind in Österreich derzeit etwa 14,7 Prozent, in Deutschland sind es sogar 15,8 Prozent der Bevölkerung.
Von Marcella Reyes’ Einkommen bleibt am Ende des Monats nie viel übrig. Jetzt, wo teure Stromrechnungen, erhöhte Mietkosten und Lebensmittelpreise auf sie zukommen, muss sie jeden Cent umdrehen. „Ich habe überlegt, im Winter vielleicht nur einen unserer drei Heizkörper anzumachen“, sagt sie. Ob sie die Karatestunden ihres Sohnes noch bezahlen kann, weiß sie auch nicht. „Vielleicht muss er den Unterricht erstmal pausieren.“
Hohe Nachzahlungen. Für den Einkauf gibt Marcella Reyes fast zwanzig Euro mehr in der Woche aus, seit die Preise ansteigen. Ihre Miete wird ab Oktober um fünfzig Euro angehoben. Ihre Wohnung heizt sie nicht mit Gas, sondern mit einem Nachtspeicher über Strom. Die Rechnung dafür liegt schon jetzt bei 220 Euro. Im vergangenen Monat kam außerdem die Rechnung für eine Nachzahlung: 600 Euro sollte Marcella Reyes auf einen Schlag bezahlen. „Das konnte ich natürlich nicht, deshalb habe ich jetzt eine Ratenzahlung mit meinem Stromanbieter vereinbart.“
Gerne würde Reyes mehr Stunden arbeiten, aber das sei unmöglich: „Ich habe keine Familie hier und sonst niemanden, der die Betreuung von meinem Sohn übernehmen kann.“
In Österreich müssen Haushalte mit massiven Mehrkosten rechnen. Bei der Wien Energie sollen Kund*innen 85 Prozent mehr für Strom und 97 Prozent für Gas zahlen, wie der Anbieter mitteilt. Für durchschnittliche Haushalte bedeutet das 57 Euro monatlich mehr bei Strom und 108 Euro monatlich mehr bei Gas. Auch in Deutschland steigen die Kosten enorm. Im Vergleich zum Vorjahr ist der durchschnittliche kWh-Preis laut Vergleichsportal Verivox bereits um 38 Prozent gestiegen. Bei den Gaspreisen müssen Verbraucher*innen mit einem Anstieg von 75 Prozent rechnen. Dazu kommen die steigenden Preise bei Lebensmittel.
Kinder, Arbeitslose und alleinerziehende Eltern – in der Regel Frauen – seien besonders von Armut bedroht, sagt Martin Schenk. Er ist Sprecher der österreichischen Armutskonferenz, einem Netzwerk von mehr als vierzig sozialen Organisationen, die sich für Armutsbetroffene engagieren. Die Teuerungen machen auch ihm große Sorgen: „Ich befürchte, dass das Schlimmste noch kommt.“
Notwendige Reformen. Die Politik reagiert mit Entlastungspaketen auf die Teuerungen. In Österreich kommt die Strompreisbremse, die krasse Preisanstiege verhindern soll, auch in Deutschland soll ein Preisdeckel eingeführt werden. „Die Strompreisbremse ist eine sinnvolle Maßnahme, weil sie preisdämpfend wirkt“, sagt Schenk. Die Armutskonferenz fordert nun, die Idee zu einer sozialen und ökologischen Maßnahme weiterzuentwickeln. „Seit Jahren besprechen wir das unter dem Begriff ‚Energiegrundsicherung‘, die eine bestimmte Versorgung an Strom als Grundanspruch jedem Menschen zusichern würde. Darüber steigen die Kosten progressiv an“, meldet die Armutskonferenz in einer Aussendung.
In Deutschland war die Preisbremse Teil eines dritten Entlastungspakets, das die Regierung nach viel Kritik an ihren bisherigen Maßnahmen beschlossen hat. Zuvor hatte das deutsche Wirtschaftsministerium eine sogenannte Gasumlage umgesetzt. Entlastung bringt das aber nur für Unternehmen: Verbraucher:innen zahlen ab Oktober und bis März 2024 die Mehrkosten, die Energiekonzerne jetzt beim Gaseinkauf haben. Für jede verbrauchte Kilowattstunde sind das zusätzlich 2,419 Cent. Mehrkosten von 484 Euro pro Jahr für eine Familie mit einem Verbrauch von 20.000 kWh. Einige Energiekonzerne können sogar zusätzliche Gewinne verzeichnen.
Neben der Preisbremse bekommen Deutsche in Zukunft etwas mehr Kindergeld, auch in Österreich wird die Erhöhung des Familienbonus vorgezogen. Darüber hinaus gibt es Einmalzahlungen wie den österreichischen Klimabonus, um die akute finanzielle Mehrbelastung aufzufangen.
Diese kämen zwar direkt bei den Menschen an, seien aber nur kurzfristig wirksam, sagt Schenk. „Es ist ein Denkfehler, davon auszugehen, dass die Teuerung das ursprüngliche Problem ist, dem gegengelenkt werden muss. Die Probleme liegen tiefer: Die Sozialhilfe ist katastrophal und sie muss reformiert werden.“ Die Armutskonferenz fordert daher eine neue Mindestsicherung, die Existenz und Teilhabe garantiert.
Genug ist Genug. Das wünscht sich auch Rebecca. Sie ist Mitte zwanzig, studiert und macht sich nebenbei im Social-Media- und Marketing-Bereich selbstständig. Ein festes Einkommen hat sie nicht. Vor Kurzem ist sie aus ihrer Wohnung in Wien ausgezogen – eigentlich mit dem Plan, nach Berlin zu übersiedeln. Das kann sie sich nun aber nicht mehr leisten und ist deshalb auf unbestimmte Zeit bei ihrer Mutter in Oberösterreich untergekommen. „Wieder in die Großstadt zu ziehen, war mein allergrößter Traum. Das jetzt aufzuschieben, ist natürlich ein krasser Kompromiss“, erzählt sie am Telefon.
Auch für ihre Familie wird es nicht einfach sein, die Rechnungen zu bezahlen. Bei ihnen zuhause seien die Heizkosten jetzt schon um etwa hundert Prozent erhöht. „Ich mache mir natürlich Sorgen um meine Familie“, sagt Rebecca.
In Österreich haben die Gewerkschaften in vielen Städten zu Demonstrationen aufgerufen. Über 30.000 Menschen forderten dort ein Ende der Kostenexplosion, Rebecca war eine von ihnen. „So kann es nicht weitergehen“, sagt sie. Auch in Deutschland protestieren Tausende gegen die steigenden Preise. In den sozialen Medien startete im August eine Kampagne den Aufruf #GenugistGenug“. „Heizen oder Duschen dürfen kein Luxus sein“, schreiben sie auf ihrer Website. Und: „Wir werden nicht länger akzeptieren, dass die Menschen mit ihrem Geld nicht mehr bis zum Monatsende kommen.“
Dass die Preise wieder sinken werden, dass es mehr Unterstützung für armutsbetroffene Menschen gibt, das hofft auch Marcella Reyes. Schon in der Vergangenheit hatte sie finanzielle Probleme, phasenweise bezog sie Arbeitslosengeld. Noch immer geht sie regelmäßig zu einer staatlichen Beratungsstelle. „Ich habe Angst vor dem Winter. Niemals wieder möchte ich an diesen Punkt kommen, an dem ich nachts nicht schlafen kann, weil ich nicht weiß, wie ich meine Rechnungen bezahlen kann“, sagt sie. •