Daphne wurde von ihrem Ex-Partner geschlagen und vergewaltigt, vor Gericht wird er freigesprochen. Er ist einer von vielen. Warum ist das so? Die Rekonstruktion eines Vergewaltigungsprozesses. Von Anna Lindemann
Insgesamt waren es neun Monate. Sie lernen sich im November kennen, kurze Zeit später zieht er bei ihr ein. Es sei schwer zu sagen, wann genau die Gewalt losging, sagt Daphne. Von Anfang an war er sehr besitzergreifend, zu ihren Freundinnen hat sie schon in dieser Zeit weniger Kontakt. Nach etwa drei Monaten bricht er immer öfter in heftige Wutanfälle aus, irgendwann drängt er sie zum Oralsex. Gegen Ende der Beziehung fängt er an, sie zu schlagen. Sie erzählt niemandem davon.
Es dauert noch zwei Monate, dann trennt sie sich – insgesamt dreimal, bis er es akzeptiert. Fast hätte sie es nicht geschafft, nachdem er sie immer wieder überredet hat, bei ihm zu bleiben. Als er die Wohnung endlich verlässt, packt Daphne gemeinsam mit ihrer Mutter seine Sachen zusammen und bleibt die nächsten Nächte bei ihr. Erst dann kann Daphne ihrer Mutter die Wahrheit anvertrauen, später auch ihren Freundinnen, dann der Polizei: Ihr Ex-Partner hat sie bedroht, geschlagen und vergewaltigt.
Ein Jahr später sitzt Daphne in der ungewöhnlich warmen Oktobersonne in einem Wiener Café und trinkt einen Chai. Sie hat ihre Haare hochgesteckt und sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl. Ihre Hände sind auf dem Tisch verschränkt. Zwei Anzeigen, zwei Gerichtsprozesse und zwei niederschmetternde Urteilsverkündungen hat sie in den vergangenen zwölf Monaten mitgemacht. Ihr Ex-Partner wurde in allen Anklagepunkten freigesprochen. Daphne ist wütend.
Sie erzählt der Reihe nach. Nach der Trennung hört ihr Ex-Partner nicht auf, sie zu kontaktieren. Irgendwann fängt er an, auch ihre Freundinnen anzurufen. Er wolle Daphne umbringen, droht er am Telefon. Daraufhin geht sie zur Polizei.
Sie hat Fotos von ihren blauen Flecken und Aufnahmen von seinen Ausrastern. Während der Beziehung habe sie angefangen, die Gewalt zu dokumentieren. Ob sie damals schon Beweise sammeln wollte? „Vielleicht. Ich habe das aber auch getan, um alles selbst zu verarbeiten und um meinen Erinnerungen im Nachhinein zu vertrauen.“ Daphne spricht von „Gaslighting“, ihre Wahrnehmungen seien von ihrem Ex-Partner manipuliert, sie sei tief verunsichert worden.
In einer Studie aus dem Jahr 2011 – aktuellere Forschung gibt es zu dem Thema in Österreich nicht – geben knapp dreißig Prozent der Frauen an, sexuelle Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner erlebt zu haben. In Deutschland gibt es dazu keine konkreten Zahlen.
Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 8.490 Fälle von Vergewaltigung erfasst. Schaut man auch auf andere Delikte wie sexuelle Nötigung oder Missbrauch, dann sind es insgesamt rund 104.000 Fälle. Und das umfasst nur diejenigen, die der Polizei gemeldet wurden.
Daphne zeigt zuerst nur die Drohungen und Körperverletzungen an. Als der Polizeibeamte konkret nach Vergewaltigung fragt, antwortet sie: „Das kann ich schwer sagen.“ Sie hatte das Gefühl, der sexuelle Übergriff sei nicht schlimm genug, weil er nichts Handfestes sei – so wie die dokumentierten Drohungen und Körperverletzungen. Und sie war eben in einer Beziehung mit diesem Menschen, der sie missbraucht hat. Da sei eine Bindung gewesen, sie habe ihn anfänglich nicht in zusätzliche Schwierigkeiten bringen wollen.
Vergewaltigungen werden oft nicht angezeigt. „Eine Vergewaltigung nicht anzuzeigen kann tausend verschiedene Gründe haben“, sagt Ursula Kussyk. Sie ist Leiterin der Frauenberatungsstelle Notruf bei sexueller Gewalt in Wien und begleitet Opfer sexueller Gewalt seit dreißig Jahren durch Rechtsprozesse. Oft sei es die Scham, die Frauen von einer Anzeige abhält. „In einer aufrechten Partnerschaft ist es noch schwieriger, zur Polizei zu gehen. Da gibt es vielleicht den Anspruch, dass man einander liebt und selber ja auch ein Sexualleben haben will. Da verschwimmen schnell die Grenzen, was in Ordnung ist und was nicht mehr.“
Laut der Prävalenzstudie aus dem Jahr 2011 zeigen weniger als zehn Prozent der betroffenen Frauen eine Vergewaltigung an. Ob die Zahlen so stimmen, sei aber schwer nachprüfbar, sagt Kussyk. Die Schätzungen variieren stark und seien letztlich Spekulation. Die Frauenberaterin geht jedenfalls von einer hohen Dunkelziffer aus.
Kussyk hat selbst erlebt, dass viele Frauen sexuelle Gewalt bei einer Anzeige nicht erwähnen. „Körperliche Gewalt ist manchmal einfacher anzuzeigen, da gibt es oft mehr Beweise“, sagt die Frauenberaterin. „Ich kann es sehr gut verstehen, wenn Frauen dann sagen, sie ersparen sich die Anzeige wegen Vergewaltigung.“
Nachdem Daphne das erste Mal Anzeige erstattet hat, vereinbart sie einen Termin bei der Frauenberatung. „Dort wurde mir klarer, dass ich in meiner Beziehung tatsächlich sexuell missbraucht wurde“, sagt Daphne. „Ich habe mich dann zum ersten Mal richtig mit dem beschäftigt, was passiert ist. Ich habe alles akribisch aufgeschrieben und mit meiner Beraterin besprochen.“
Vorbereitung auf den Prozess. Die Beratungsstellen sind Anlaufstellen für Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Kussyk und ihr Team bieten dort Anzeigeberatung und Prozessbegleitung an und vermitteln ihre Klientinnen weiter, um psychologische Unterstützung zu erhalten. „In erster Linie hören wir Frauen zu, wir informieren sie und unterstützen sie bei einem Rechtsprozess. Die Strafverfahren an sich sind aber außerhalb unserer Kontrolle.“ Oft rät Kussyk deshalb von einer Anzeige ab. „Nach einem sexuellen Übergriff ist es extrem wichtig, dass die betroffene Frau das Gefühl bekommt, wieder die Kontrolle zu haben. Ein Strafverfahren ist ein Prozess, in dem sie genau das nicht hat.“
Kussyk will Frauen gründlich auf das vorbereiten, was sie erwartet. „Als Zeugin ist die Frau zur Aussage verpflichtet, im Notfall kann sie dazu gezwungen werden.“ Außerdem bestehe immer auch die Gefahr, dass die Frau am Ende selbst wegen Verleumdung angezeigt wird. „Ich habe Frauen begleitet, die das erlebt haben. Das ist eine Belastung, die man sich nur schwer vorstellen kann.“ In etwa zehn bis 15 Prozent der Fälle sei mit einer solchen Verleumdungsklage zu rechnen, sagt Dr. Christine Kolbitsch. Sie arbeitet als Anwältin in einer Kanzlei für Familienrecht und vertritt seit dreißig Jahren Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben.
Daphne entscheidet sich nach ihren Terminen in der Beratungsstelle trotzdem, nochmals zur Polizei zu gehen. Etwa einen Monat nachdem sie die erste Anzeige erstattet hat, sitzt sie dort einer Beamtin gegenüber, die zum Thema sexuelle Gewalt geschult ist. Den Termin hat ihre Frauenberaterin vereinbart. Daphne fühlt sich dieses Mal ernst genommen und zeigt die Vergewaltigung an.
Nach einer Anzeige entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob das Ermittlungsverfahren eingestellt wird oder es zu einer Anklage kommt. „In etwa fünfzig Prozent der Fälle kommt es zu einer Hauptverhandlung“, sagt Kolbitsch. Ein Verfahren dauert mindestens ein Jahr, im schlimmsten Fall können es auch zwei sein. „Man weiß zum Beispiel nie, ob es noch zu einem Berufungsverfahren kommt oder ein Zeuge nicht auffindbar ist“, so die Anwältin.
In Daphnes Fall entscheidet die Staatsanwaltschaft schnell, dass es zu einer Verhandlung kommt. Rund zwei Monate später – es ist inzwischen Dezember – steht sie das erste Mal vor Gericht. Ihr stehen zwei Prozesse bevor, ihre beiden Anzeigen werden getrennt voneinander verhandelt.
In dieser ersten Verhandlung geht es um ihre Vorwürfe der körperlichen Gewalt und der Drohung. Die Bilder ihrer blauen Flecken und eine Sprachaufnahme aus der Beziehung, in der ihr Ex-Partner droht, sie zu töten, sollen das beweisen. Können sie aber nicht, urteilt die Richterin. Im Urteil liest Daphne später, die Beweise seien unzulässig. „Die Drohung ist zu wenig konkret“, steht dort geschrieben. Ihr Ex-Partner wird freigesprochen.
„Bei meinem ersten Termin hatte ich das Gefühl, unter die Lupe genommen zu werden“, sagt Daphne. Sie glaubt, sich beweisen zu müssen, fast so, als wäre sie selbst angezeigt worden. Sie ist kein Einzelfall. Dass es in den Prozessen mehr um die Opfer als um die Täter geht, sei nicht ungewöhnlich. „In den Verhandlungen beobachte ich immer wieder Victim Blaming, das hat in den vergangenen Jahren zugenommen“, sagt Anwältin Kolbitsch. „Das ist unglaublich frustrierend.“
Während Daphne von der Gerichtsverhandlung erzählt, steht sie auf und schüttelt ihre Arme und Beine aus. „Es ist doch ganz schön aufwühlend, über alles zu sprechen“, sagt sie. Eine Pause machen oder gar das Gespräch abbrechen will sie aber nicht. „Wenn ich die Wahrheit ausspreche, dann kann ich weniger verdrängen.“
Fast alle Täter werden freigesprochen. Mehr als neun Monate dauert es, bis es zur Verhandlung im zweiten Prozess kommt. Dieses Mal lautet der Vorwurf: Vergewaltigung. Der Richter ist verständnisvoll, nach der Anhörung sagt er zu Daphne: „Ich glaube Ihnen.“ Trotzdem wird ihr Ex-Partner auch in diesem Fall freigesprochen. Im Urteil steht: „Zum Teil schilderte die Zeugin, sie habe die Taten ‚einfach über sich ergehen lassen‘. Insofern ist bereits unklar, ob der objektive Tatbestand erfüllt ist.“
Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt werden vor Gericht oft angezweifelt, wenn Frauen mit dem Täter in einer Beziehung sind. Das habe sicherlich auch etwas mit unserem Bild von Beziehungen zu tun: „Es hat lange gedauert, bis Vergewaltigungen in Beziehungen überhaupt ein Straftatbestand waren“, sagt Kolbitsch. Oft mangele es aber auch an Beweisen.
Ihre Frauenberaterin versucht, Daphne nach der Urteilsverkündung das Gefühl zu geben, alles getan zu haben, was sie hätte tun können, erzählt sie. Dass Sexualstraftäter verurteilt werden, sei einfach unwahrscheinlich. Aber Daphne will sich damit nicht abfinden: „Da läuft etwas falsch. Das betrifft nicht nur mich, das ist ein größeres Problem.“ Denn was in so einem Prozess passiere – von der Anklage bis zum Urteil – davon würden viel zu wenig Menschen etwas mitbekommen: „Deshalb will ich drüber sprechen.“
Statistiken aus dem BMI zeigen, dass im Jahr 2020 in Österreich nur 10,4 Prozent der angezeigten Vergewaltiger verurteilt wurden. In den Jahren davor sah es nur marginal besser aus. Warum ist das so? „Die Gesetze sind da, natürlich kann man immer wieder an ihnen schrauben, aber wo sich wirklich was tun muss, ist bei den Einstellungen der Menschen, die mit den Gesetzen arbeiten“, sagt Kussyk.
Frauenfeindliche Stereotypen seien in der Justiz genauso vorhanden wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Noch immer würden Vergewaltigungsmythen umhergeistern: Die Frau habe das gewollt, verdient oder gar erfunden, um Aufmerksamkeit zu bekommen. „Das ist natürlich völlig aus der Luft gegriffen. Wir brauchen auf jeden Fall mehr Aufklärung“, sagt Kussyk.
Das sieht auch Kolbitsch so: „Die Gesetze an sich sind schon gut, aber es hapert an der Umsetzung. Richterinnen und Richter sind oft nur juristisch ausgebildet, haben aber nicht die nötige psychologische Sensibilisierung.“ Ein großes Problem sei, dass Richter*innen die Täterstrategien oft nicht kennen und deshalb nicht durchschauen. „Da braucht es dringend Schulungen und einiges an Erfahrung.“
Außerdem müsse mehr Geld für Forschung in die Hand genommen werden. „Es braucht mehr Daten zu gesellschaftlichen Einstellungen und ihren Veränderungen“, sagt Kussyk. Vor allem aber müsse Frauen geglaubt werden. „Viel zu oft wird ihnen nicht zugehört.“
In der Wut steckt Kraft. Die Frauen, die zu Kussyk in die Beratung kommen, haben alle individuelle Geschichten. Einige erleben sexuelle Gewalt in ihrer Beziehung, so wie Daphne. Viele wurden von Bekannten oder auch von fremden Männern vergewaltigt. Sie alle aber verbindet eine Traumatisierung. „Oft fühlen sich die Frauen schuldig, schämen sich, haben Probleme mit ihrer Sexualität und ihrem Körper“, sagt die Frauenberaterin.
So auch Daphne: „Ich merke, dass ich den Zugriff auf meine eigene Sexualität verloren habe. Die ist wie eingefroren“, sagt sie. Einmal hat sie wieder versucht, mit einem Mann zu schlafen. Schnell wurde sie ängstlich und begann zu zittern. Angst will sie aber nicht mehr haben. „Wenn mich Männer auf der Straße anstarren oder ansprechen, dann werde ich wütend. Und das ist gut, denn in Wut steckt so viel Kraft. Ich wünsche mir, dass mehr Frauen wütend werden.“ •
Anna Lindemann studiert Sozialwissenschaften in Berlin und schreibt als freie Journalistin – am liebsten über feministische Themen.
1 Kommentar zu „Der Prozess“
Sehr geehrte Frau Lindemann
Ich verfolge die Themen “Gewalt an Frauen” etc intensiv in den österreichischen Zeitungen. Auch ich bin ein Gewaltopfer, aber vor allem meine Mutter; meine Mutter erlebte jede Form von Gewalt, sie trennte sich vor über 2 Jahren, nichts desto trotz ist es bis heute immer wieder ein Hexenkessel. Ich erlebte insbesondere die körperliche Gewalt als Kind und Jugendliche, durch meine Ausbildung schaffte ich den Ausbruch aus “seinem” System. Sein System besteht aus Macht, Abhängigkeit, Angst etc.
Auch bei meiner Mutter kam es zum Strafverfahren, das Gewaltschutzzentrum war sehr aktiv; es kam zur Einstellung… im Zweifel für den Angeklagten; falsche Zeugen sagten für ihn aus etc…. mittlerweile gelang es, eine falsche Zeugin zur Verantwortung zu ziehen; die Situation besteht meist aus einem Täter, der immense Lügenkonstrukte baut und einem sehr eingeschüchterten Opfer; meine Mutter lebt heute an einem sicheren Ort in einer menschenwürdigen Umgebung und merkt immer mehr, wie wohltuend ein gewaltfreies Leben ist; meine Erfahrungen sind: Die Staatsanwaltschaft tut oft nur etwas, wenn die Beweise sehr eindeutig sind… ich hörte vom Gewaltschutzzentrum, dass sie von einer bestimmten Staatsanwaltschaft häufig Einstellungen bekommen; ich fragte dort direkt nach, eine Antwort war: “Ich habe so viel zu tun”….als ich mit dem Staatsanwalt telefonierte, sagte er mir: “Ob ich auch einmal Luft hole!!”….. als ernst nehmen schaut für mich anders aus. Auch von den Polizeiinspektionen habe ich einen sehr unterschiedlichen Eindruck: Manche nehmen dich ernst und versuchen zu helfen, aber bei anderen merkt man noch sehr sehr stark den Aspekt der Verharmlosung.
Ich finde Ihre Arbeit immens wichtig. Vielen Dank.
Freundliche Grüsse
MMag. Renate Montigel