Die US-amerikanische Anthropologin Kristen R. Ghodsee hat ein neues Buch über Utopien gegen das Patriarchat geschrieben. Lea Susemichel hat sie erzählt, warum sie auch angesichts des globalen Rechtsrucks ihre Zuversicht nicht verliert.
an.schläge: Das Wort „utopisch“ ist fast schon ein Schimpfwort. Warum ist das so?
In Ihrem neuen Buch „Utopien für den Alltag. Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat“ schreiben Sie, dass Menschen mit dem Zustand der Welt zwar oft unzufrieden sind, aber Alternativen ablehnen, weil sie „in der Realität“ vermeintlich nicht machbar sind. Wie lässt sich das ändern?
Utopist:innen haben immer Feinde, weil sie Menschen mit Reichtum und Privilegien herausfordern. Im Fall von Jesus von Nazareth forderte er das Römische Reich heraus. Buddha stellte das traditionelle hinduistische Kastensystem infrage. Menschen wie Flora Tristan, Karl Marx und Friedrich Engels stellten die bürgerliche Autorität und den Kapitalismus infrage. Utopist:innen träumen oft von einer Lebensweise, die jene Gesellschaftsstrukturen untergräbt, die den Reichtum und die Privilegien einer bestimmten Elite stützen. Und natürlich schlagen diese Eliten zurück. Sie wehren sich mit dystopischen Visionen von der Zukunft. Sie versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Welt schlechter statt besser wird, wenn sie sich erheben und versuchen, die Dinge zu ändern. Wir wehren uns, indem wir uns weigern, ihnen zu glauben.
Warum sind gerade Patrilinearität und Patrilokalität so große Probleme, die jede feministische Utopie unbedingt überwinden muss?
Das Patriarchat manifestiert sich in konkreten Praktiken wie der Patrilinearität (Rückverfolgung der Abstammung durch den Vater) und der Patrilokalität (der Mann gilt immer als Haushaltsvorstand, dessen Beruf oder Geburtszugehörigkeit über den Wohnort eines Ehepaars bestimmt). Diese Praktiken schaffen Familienbeziehungen, die zwei Dinge ermöglichen: erstens den generationenübergreifenden Transfer von Reichtum und Privilegien von Vätern auf ihre legitimen Kinder. Und zweitens eine Welt, in der die Geburt und Erziehung der nächsten Generation von Steuerzahler:innen, Verbraucher:innen und Bürger:innen kostenlos erfolgt, und zwar größtenteils durch Frauen im privaten Bereich. Das Patriarchat ist ein System, das sich so entwickelt hat, damit die extreme Ungleichheit in der Gesellschaft über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden kann.
In Ihrem Buch konzentrieren Sie sich stark auf kollektive Formen des Zusammenlebens und der gemeinsamen Kindererziehung. Warum hat sich die Isolation von Menschen und Kleinfamilien historisch so stark durchgesetzt, obwohl so viel für die Vergemeinschaftung spricht? Wie könnten vor allem Frauen von der Vergemeinschaftung der Sorgearbeit und der Abschaffung des Privateigentums profitieren?
Man darf nicht vergessen, dass historisch gesehen viele Mütter bei der Geburt ihres Kindes sterben. Aus einer evolutionären anthropologischen Perspektive betrachtet, wären wir als Spezies ausgestorben, wenn wir unsere Kinder nicht gemeinsam aufgezogen hätten (Stichwort „cooperative breeding“). Wir wissen, dass die gesellschaftlich erzwungene universelle Monogamie im antiken Griechenland entstand und sich in Gesellschaften verbreitete, die den Ackerbau entwickelten. Aber heute glauben viele Menschen, dass die ausschließliche Betreuung durch zwei Elternteile sowohl „normal“ als auch natürlich ist. In Wirklichkeit dient die Isolierung der Kernfamilie dazu, die Ungleichheit aufrechtzuerhalten und die gesamte gesellschaftlich reproduktive Arbeit in den privaten Bereich zu verlagern. Der Kapitalismus als System beruht auf einer Familienstruktur, in der Frauen als Teil ihrer „natürlichen“ Rolle als Mutter Kinder gebären und aufziehen. Der beste Weg, Frauen dazu zu bringen, diese Arbeit zu machen, ist zu sagen, „Ihr macht das aus Liebe“. Die Idealisierung der Kernfamilie ist ein Weg, Frauen dazu zu bringen, keine Entschädigung oder Anerkennung für die gesellschaftlich sehr wichtige Reproduktionsarbeit zu verlangen, die sie zu Hause leisten. Die Vergesellschaftung dieser Arbeit würde nicht nur die Frauen von der patriarchalischen Ausbeutung befreien, sondern auch den Kindern zugutekommen, die in einer Gemeinschaft von liebenden und unterstützenden Erwachsenen aufwachsen würden.
Das ist auch die Bilanz Ihres Buchs „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben“. Sozialistische Gesellschaftsformen haben in der Geschichte die Situation der Frauen verbessert, so Ihr Befund.
Ja, trotz der vielen Schattenseiten des real existierenden Sozialismus des 20. Jahrhunderts in Osteuropa (Reisebeschränkungen, Mangel an Konsumgütern und Geheimpolizei) genossen die Frauen in diesen Ländern mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit und Autonomie als ihre Altersgenossen im Westen während derselben Epoche.
Sie schreiben, dass das sogenannte Blue-Sky-Denken in der Produktentwicklung und im Geoengineering wünschenswert ist, aber nicht in Bezug auf die Gesellschaft. Warum koppeln wir technische Visionen und Innovationen von sozialen Fragen des guten Lebens ab, obwohl wir sehen können, dass dies sehr schnell sehr dystopisch werden kann? Elon Musk ist aktuell ja das beste Beispiel.
Unsere Gesellschaften sind zu Orten geworden, an denen nur noch Milliardäre große Träume haben. Normale Menschen mit normalem Einkommen dürfen immer nur normale Gedanken haben. Den Milliardären geht es in der Regel nur darum, ihren Reichtum zu erhalten oder zu mehren, also ist Innovation in Ordnung, solange sie dem Zweck dient, ihren Gewinn zu vergrößern. Aber große Ideen zur Schaffung einer gerechteren, ausgewogeneren und nachhaltigeren Welt stellen oft ihren Reichtum und ihre Privilegien infrage, und deshalb werden sie alles tun, um sie zu verhindern.
Selbst wenn Träume nicht wahr werden, erweitern sie unsere Vorstellung von dem, was möglich ist, und verändern so den Horizont dessen, was wir praktisch erreichen können, schreiben Sie. Warum spielt es sich trotzdem so oft im sogenannten Overton-Fenster ab, also im vermeintlich „realistischen Rahmen“?
Wenn wir den Bereich des Denkbaren und Möglichen erweitern, kommen wir auf dem Weg zu einer besseren Zukunft weiter, als wenn wir uns ein begrenztes und „machbares“ Ziel setzen. Einzelne machbare Schritte in Richtung Veränderung sind in praktischer Hinsicht wichtig, aber wir brauchen immer auch Träume, weil sie uns helfen, unsere Kreativität zu entfesseln.
Sie verweisen auf eine wachsende Zahl von Neo-Utopien, Bücher, die eine positive Zukunft und einen politischen und wirtschaftlichen Wandel visualisieren. Haben Sie trotz des weltweiten Rechtsrucks und der Gegenreaktion, die wir erleben, die Hoffnung, dass sie sich durchsetzen werden? Sie leben in den USA, wie halten Sie an dieser Hoffnung fest?
Ich habe immer Hoffnung, weil ich versuche, jeden Tag zu hoffen. Der Fortschritt ist nicht immer linear. Es gibt immer Momente des Rückschritts und der Gegenreaktion. Aber ich glaube, dass der Rückschlag, den wir jetzt erleben, eine echte Reaktion auf die utopische Vision ist, die während der Pandemie möglich war. Die Welt blieb stehen. Die Umwelt erholte sich. Die Regierungen verschenkten Geld. Die Menschen arbeiteten von zu Hause aus nach ihren eigenen Zeitplänen. Die Eltern hatten mehr Zeit für ihre Kinder. Die Menschen teilten ihre Zeit und ihre Ressourcen. Wir kamen als ein Planet zusammen, um ein tödliches Virus zu besiegen. Diese Dinge öffneten den Menschen die Augen für eine ganz andere Art von Möglichkeiten für die Zukunft. Die gegenwärtige Gegenreaktion versucht, uns alle vergessen zu lassen, dass wir alle gemeinsam dafür verantwortlich sind, die Zukunft so zu gestalten, wie wir sie uns wünschen.
Kristen R. Ghodsee, geboren 1970, ist Professorin für Russische und Osteuropäische Studien an der University of Pennsylvania. 2019 erschien „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben“. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt „Utopien für den Alltag. Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat“.