Strafe muss nicht sein, findet REHZI MALZAHN. An die Stelle von Rache und Vergeltung sollte „Restorative Justice“ treten.
In letzter Zeit verschafft sich eine feministische Strömung immer stärker Gehör, die im Englischen als „carceral feminism“ (deutsch: Strafrechtsfeminismus) bezeichnet wird. Sie hat die radikale Gesellschaftskritik aufgegeben und sich im Namen der Frauen* mit dem Staat und seinen repressiven Institutionen verbündet, um gegen diverse ausgemachte Übel vorzugehen. Gefordert wird u. a. das Verbot von Prostitution oder Pornografie sowie immer härtere Strafen für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bzw. eine konsequentere strafrechtliche Verfolgung derselben. So verständlich manche dieser Forderungen zunächst sein mögen: Strafe kann kein Mittel für emanzipatorische gesellschaftliche Veränderung sein.
Warum strafen nicht hilft. Wenn jemand etwas tut, das jemand anderen verletzt, dann muss diese Person bestraft werden. Dieser Glaubenssatz hat sich tief in unser Bewusstsein eingeschrieben. Seit Jahrhunderten werden erbitterte philosophische Kämpfe darum geführt, warum und wie man strafen soll und darf. Zur Abschreckung der potenziellen Täter*innen, zur Abschreckung der Allgemeinheit, um Rechtsfrieden und Gleichgewicht wiederherzustellen, um den*die individuelle*n Täter*in zu bessern, um soziale Normen zu verdeutlichen. Nietzsche wandte zu Recht ein, dass dies alles Erklärungen im Nachhinein sind: Erst einmal straft man, und hinterher sucht man eine Ausrede dafür.
Und bis dato laufen alle Rechtfertigungen ins Leere. Niemand wird abgeschreckt, niemand wird gebessert, der Frieden bleibt für die Betroffenen oft für immer gestört. Der Rechtswissenschaftler Franz von Liszt schrieb Ende des 19. Jahrhunderts: „Wenn ein Jugendlicher oder ein Erwachsener ein Verbrechen begeht und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen. Ist das Gesagte richtig […], so ist damit der völlige Zusammenbruch, der Bankerott unserer ganzen heutigen Strafrechtspflege in schlagendster Weise dargetan.“ Die Konsequenzen daraus wurden freilich nie gezogen.
Was bleibt, ist die Rache – und das Schutzbedürfnis. Nicht zu strafen bringt in unserem Gerechtigkeitsempfinden etwas ins Ungleichgewicht und wir fürchten um unsere Sicherheit und Gesundheit. Die rächende Strafe versucht, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen – und dient einer gewissen Triebabfuhr, die in einem Rechtsstaat vermittelt über den Staat passieren soll. Beides misslingt: Die meisten Betroffenen stellen fest, dass die so sehr ersehnte „harte Strafe“ für den*die Beschuldigte*n ihnen gar keine Befriedigung bringt, noch weniger: Sie macht ihren Schmerz und ihren Schaden gar nicht „weg“, sondern hat nur auf der anderen Seite welchen hinzugefügt. Es ist also nichts im Gleichgewicht und besser fühlt man sich auch nicht. Auch ist unklar, ob die Strafe die Bestraften wirklich davon abhalten wird, künftig Ähnliches zu tun. Von Schutz kann also nur bedingt die Rede sein.
Denkfehler. Unserer heutigen Art zu strafen liegt die Idee zugrunde, dass ein Individuum ausfindig gemacht werden kann, das Urheber*in der strafbaren Handlung und daher schuldig ist. An dieser Annahme ist gleich mehreres problematisch.
Die soziale Gewordenheit jedes Subjektes und damit die gesellschaftlichen Machtverhältnisse werden hier ausgeklammert, das Problem wird dem einzelnen Individuum zur Last gelegt. Wir werden aber alle von der Gesellschaft gemacht. Die Trennung in die „bösen“ Täter*innen und den „guten“ Rest ist Unsinn, sie hilft uns nur dabei, zu verdrängen, dass wir in Machtverhältnisse verstrickt sind, da das gesellschaftliche Gewebe uns alle hervorbringt und wir daran permanent mitweben. An jeder „Tat“ hat die Gesellschaft mitgewirkt. Schon Von Liszt wusste: Eine gute Sozialpolitik ist die beste Kriminalpolitik. Gesellschaftliche Veränderungen sind aber nicht mehr nötig, wenn davon ausgegangen wird, dass Individuen durch ihren „freien Willen“ „selbst schuld“ sind, die entsprechenden Handlungen „gewählt“ zu haben.
Dies bringt uns zur nächsten Fehlannahme, nämlich der Idee des Individuums, das mit sich selbst identisch ist und frei entscheidet. Wir sind aber nicht stets die Gleichen, haben viele Anteile, wissen oft selbst nicht, warum wir tun, was wir tun, oder manches nicht einfach lassen können, sind heute nicht mehr die, die wir gestern waren, und so weiter. Die Frage, ob es ein „Ich“ gibt, das als Urheber*in seiner Handlungen angesehen werden kann, ist mehr als nur philosophischer Denksport, sondern ein handfestes Problem mit weitreichenden Konsequenzen.
Identitätszuweisungen. Nicht zuletzt ist niemand mit einer Handlung identisch. Wir sind alle mehr als Vergewaltiger, Mörderinnen, Dichterinnen oder Skifahrer. Entsprechend sind die vermittels der Verurteilung ausgesprochenen Identitätszuweisungen Stigmata, die erstens schwer ins eigene Selbstbild integrierbar sind, zweitens der Komplexität und Entwicklungsfähigkeit von Menschen nicht gerecht werden und drittens letztlich nicht viel über diesen Menschen aussagen.
Der „Strafrechtsfeminismus“ ignoriert nicht nur diese Problematik, er klammert auch die Tatsache aus, dass viele Betroffene diverser Formen von Gewalt sich nicht an die staatlichen Institutionen wenden können oder wollen, etwa weil sie keinen oder einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben und sich somit selbst in Gefahr bringen würden, oder weil sie riskieren, ein zweites Mal viktimisiert oder nicht ernst genommen zu werden. Dies betrifft neben Menschen, die rassistisch diskriminiert werden, vor allem LGBTI*s und Frauen im Allgemeinen. Dazu kommen all jene Formen von Gewalt und Ungerechtigkeit, die dem Staat strukturell immanent sind und deren Verfolgung daher von ihm nicht erwartet werden kann.
Alternativen. All diese Fragen sind keineswegs neu und wurden bereits vor vier Jahrzehnten in der kritischen Kriminologie, Soziologie und Rechtslehre diskutiert. Damals entstand durch das Zusammentreffen der „Krise des Strafrechts“, der anti-kolonialen Befreiungskämpfe, des Schwarzen Feminismus, der Alternativbewegung und des christlichen Abolitionismus (in den USA Bewegung zur Abschaffung zunächst der Sklaverei und später des Gefängnisses) ein neuer Ansatz, der sich „Restorative Justice“ (RJ) nennt. Die zentrale Idee in aller Kürze: Wiedergutmachung statt Strafe, Dialog statt Ausschluss, gleichberechtigte Partizipation aller Beteiligten, Unterstützung statt Isolation (auf beiden Seiten), Autonomie und Eigenmacht statt Vertrauen auf den Staat. Die Menschen sollten sich ihren „Konflikt“, der ihnen durch den Staat enteignet worden ist (so der norwegische Kriminologe Nils Christie in seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Conflicts as property“), wieder zurückholen und weitestgehend selbst lösen. Vor allem sollen die direkt Betroffenen sprechen und mitbestimmen können, anstatt in einem von der Justiz inszenierten Spektakel als Randfiguren aufzutreten. So kann auch der ganze soziale und politische Kontext einer Handlung zur Sprache kommen und die Lösungsfindung ist näher an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Beteiligten und ihres Umfeldes.
Diverse Formen einer solchen „restorativen“, transformativen oder Community Justice sind nicht nur Teil des Rechtssystems diverser staatenloser Gesellschaften, sondern werden auch seit langer Zeit in den Communities jener Bevölkerungsgruppen praktiziert, die sich nicht an die staatliche Justiz wenden können oder wollen (etwa Schwarze oder LGBTI*s in den USA). Im Zentrum steht dabei das Verhindern von Fehden, Selbstjustiz und Stigmatisierung (sprich: mehr Gewalt), das Schaffen von Unterstützung und Gehör für die Betroffenen (Empowerment) sowie gemeinsamer Verantwortlichkeit, Wiedergutmachung, Gemeinschaft und Gerechtigkeit (sprich: mehr Frieden). Es geht darum, aus dem Kreislauf der Gewalt auszusteigen und ihn durch gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme und autonome Konfliktklärungsmethoden für einen konstruktiven gesellschaftlichen und persönlichen Veränderungsprozess zu ersetzen.
Natürlich wirft diese Herangehensweise viele Fragen auf. Darauf einzugehen fehlt hier leider der Platz. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass Strafe (nicht nur Gefängnis) organisierte Leidzufügung und somit Gewalt ist und daher kein Mittel im Kampf um Befreiung und Emanzipation sein kann. Hier muss das Denken über Alternativen anfangen, dahinter darf es nicht zurückfallen.
Rehzi Malzahn, Aktivistin und Autorin, lebt zwischen Köln und Südfrankreich. Im Herbst erscheint ihr Buch „Strafe und Gefängnis. Theorie, Kritik, Alternativen. Eine Einführung“ im Schmetterling-Verlag.
1 Kommentar zu „Das Problem der Strafe“
In dem Artikel werden “restorative ” und “transformative Gerechtigkeit” gleichgesetzt..dabei unterscheiden sie sich inhaltlich m.e. sehr… bei der “rj” sind – neben der individuellen “wiederhergutmachung” -durchaus staatliche stellen bzw. vom staat unterstütze gruppen als mediatore*innen vertreten, was bei der “tj” radikal in frage gestellt wird.. hier ist es nämöich die “community” die jeweilige gemeinschaft, die sich auf egalitaere weise fuer eine neu-herstellung der sozialen beziehungen im zusammenhang zu ihrer gesellschaftlichen hintergründe einsetzt…”
kritik an der praxis der “restorativen gerechtigkeit”. http://radiochiflada.blogspot.com/2016/10/restorative-justice-gute-alternative.html
einführung in die “transformative gerechtigkeit”
https://radiochiflada.blogspot.com/2017/10/gerechtigkeit-welche-gerechtigkeit.html….