Zwischen Retraditionalisierung und sozialer Verantwortung: Die Jugendkulturforscherin RAPHAELA KOHOUT über neue Jugendbewegungen und die Rollenbilder junger Frauen. Interview: GABI HORAK
Zum Gespräch im Wiener Weltcafé kommen wir zu Fuß, denn der Wiener Ring ist für den Verkehr gesperrt. Es ist der Tag einer großen Klima-Demo, bei der auch Greta Thunberg persönlich teilnimmt. Die Jugend ist auf der Straße, womit wir schon mitten im Thema wären.
an.schläge: Welche Jugendlichen sind bei den Klima-Demos dabei? Macht es einen Unterschied, dass diese Bewegung eine 16-Jährige und keine Erwachsene initiiert hat?
Raphaela Kohout: Das macht auf jeden Fall etwas aus. Es ist sehr gut, wenn junge Menschen es schaffen, sich öffentlich Gehör zu verschaffen, das ist leider selten der Fall. Bei solchen Bewegungen sind eher junge Menschen aus höher gebildete Milieus aktiv. Das war schon immer so, auch bei der 68er-Bewegung. Das sind jene, die sich eher in gesellschaftlich privilegierten Positionen befinden, die den Freiraum dazu haben. Sie wachsen meist mit einem partizipativen politischen Verständnis auf, da wird im Elternhaus über Emanzipation und Partizipation diskutiert und Umwelt- und Klimaschutz gehören zu den familiären Gesprächsthemen. Die Schule und auch die Peergroups spielen natürlich auch eine wichtige Rolle, aber da hängt es auch wieder vom Elternhaus ab, in welche Schule sie gehen, in welchen Milieus sich Jugendliche bewegen.
Warum brauchen Jugendliche eine eigene Jugendkultur?
Eine Funktion der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Jugendkultur bzw. zu einer Szene ist die Abgrenzung zu Erwachsenen, das war schon immer so. Was sich aber verändert hat: Es vermischt sich inzwischen stark und man fühlt sich gleichzeitig mehreren Szenen zugehörig. Was sich auch verändert hat: Bei Erwachsenen oder überhaupt in der Gesellschaft hat das Jugendlichsein einen hohen Wert bekommen, an dem sich die meisten orientieren. Wenn jedoch Jugendkulturen von Erwachsenen oder der Popularkultur aufgegriffen und vermarktet werden, verlieren sie für Jugendliche schnell an Bedeutung. Neben der Abgrenzung geht es in Szenen aber auch um ein Ausprobieren, darum Regeln auszuloten und zu brechen. Wobei der Wunsch, Regeln zu brechen, unter Jugendlichen nicht mehr so weit verbreitet ist wie früher. Das liegt auch daran, dass sich in vielen Familien die Kommunikationskultur verändert hat. Es herrscht viel eher ein Umgang des Verhandelns miteinander. Generationenkonflikte, von denen immer wieder die Rede ist, sind eher medial aufgeblasen, in ihrem familiären Umfeld kommen die Generationen überwiegend gut miteinander aus.
Zu welchen Szenen fühlen sich Mädchen eher zugehörig?
Laut aktuellstem Jugendbericht sind in der größten Szene, der Fitness-/Körper-Szene, mehr Mädchen als Burschen vertreten. In den Umweltszenen sind deutlich mehr Mädchen. Wo die Beauty-Szenen in der Untersuchung hineinfallen, weiß ich nicht, aber da sind auf jeden Fall auch mehr Mädchen vertreten, vor allem Schmink-Tutorials erfahren wirklich eine starke Verbreitung. Bei den jüngeren Mädchen geht es dabei sehr viel um ein Ausprobieren, Austesten, Abgrenzen. Darum würde ich das nicht per se als antifeministisch bezeichnen. Welche Ideale hierbei vermittelt werden, ist ein anderes Thema.

Klassische politische Jugend-Szenen wie Punks sind heute sehr klein, die „Ökos“ haben aktuell wieder etwas Aufwind. Spielt politische Identität und politisches Engagement heute weniger eine Rolle als vor zwanzig Jahren?
Das glaube ich nicht. Aktuell lässt sich sogar ein Anstieg beim politischen Interesse beobachten. Das liegt wohl auch an der breiten Verfügbarkeit von Nachrichten durch z. B. Social Media. Wir haben letzten Sommer eine Untersuchung zu dem Thema gemacht: Junge Menschen wissen sehr wohl Bescheid über tagesaktuelle Geschehnisse und aufgrund der weiten Verbreitung von Fake News werden Nachrichten sehr reflektiert rezipiert. Das politische Interesse ist da und bei den Wahlen in Europa wählten sie mehrheitlich links bzw. nicht nationalistisch. Was aber auch wahr ist: In Szenen geht es mittlerweile – neben anderen Aspekten – ganz viel um Ästhetik. Den emanzipatorischen Anspruch, wie er früher in der Punk-Szene ganz stark war, gibt es nicht mehr in dem Ausmaß. Auch weil „Punk“ sehr stark vermarktet wurde.
Laut einer größeren europäischen Studie sind österreichische Jugendliche wenig politisch interessiert.
Das wird der jungen Generation immer schon vorgeworfen, dass sie sich zu wenig politisch engagiert. Die politische Partizipation findet anders statt als früher. Viele Organisationen haben alte Strukturen, wo eine längerfristige Bindung notwendig ist. Das ist für viele junge Menschen uninteressant bzw. neben den hohen Anforderungen in Ausbildung und Arbeit schwer machbar. Die Bereitschaft für soziales Engagement ist prinzipiell unter jungen Menschen vorhanden. Wie das Engagement dann tatsächlich stattfinden kann, da müssen sich viele Organisationen etwas überlegen, wie sie z. B. offenere Formen der Beteiligung in ihre Strukturen einbetten können und auch junge Menschen aus niedrigeren Bildungsschichten ansprechen können, denn die fühlen sich zumeist nicht als Zielgruppe, obwohl auch bei ihnen die Engagementbereitschaft vorhanden wäre.
Welche Rolle spielt das Thema Gewalt und Hass im Netz bei Jugendlichen? Gibt es da ein Problembewusstsein?
Wir haben letztes Jahr eine Studie zu sexueller Belästigung und Gewalt im Internet gemacht und da ist rausgekommen, dass das für viele Jugendliche einfach dazugehört, dass es normal ist, mit unangenehmen Situationen im Netz konfrontiert zu sein. Sie entwickeln unterschiedliche Strategien im Umgang damit. Großteils sehen sie sich dabei selbst in der Verantwortung. Mädchen suchen die Schuld oft bei sich und ihnen wird auch die Schuld zugeschrieben, wenn sie etwa ein Bikini-Foto posten und dann anzügliche Kommentare erhalten. Die Täter-Opfer-Umkehr ist da ganz weit verbreitet.
Gilt das auch für sexuelle Belästigung außerhalb des Internets?
Ein Ergebnis der Untersuchung war auch, dass online und offline nicht getrennt voneinander gesehen werden können. Die Mädchen lernen online jemand kennen und treffen ihn dann persönlich. Sexuelle Belästigung im „realen Leben“ ist aber bestimmt weniger Tabu-Thema als früher. Die #MeToo-Debatte wurde natürlich auch bei Jugendlichen wahrgenommen.
Untersuchungen vor einigen Jahren zeigten, dass es wieder stärker den Wunsch nach traditioneller Vater-Mutter-Kind Familie gibt und Mädchen sich auf ihre Mutterrolle zurückziehen wollen. Wie hat sich das entwickelt?
Diese Retraditionalisierung beobachten wir weiterhin, vor allem bei Mädchen, die keine guten Jobaussichten haben, z. B. keine Matura oder keinen Lehrabschluss. Für Aussagen wie „Eine Mutter kann besser für die Kinder sorgen“ oder „Logisches Denken können Männer besser“ gibt es insgesamt hohe Zustimmungswerte, mehr als noch vor zehn, 15 Jahren. Das hängt auch damit zusammen, dass sich viele junge Menschen heute oft verunsichert fühlen. Mädchen mit schlechten Jobaussichten greifen dann zum Teil auf traditionelle Strukturen wie jene der „guten Mutter“ zurück, von der sie sich mehr Sicherheit erhoffen. Wobei das Ideal der guten Mutter auch unter anderen gesellschaftlichen Schichten weit verbreitet ist.
Fast doppelt so viele junge Frauen wie Männer verdienen kein eigenes Geld. Und wenn sie verdienen, dann wesentlich weniger als die Männer. Ist der Gender Pay Gap ein Thema unter Jugendlichen?
Teilweise. Ich habe über eine britische Studie von 2017 gelesen, bei der sich zwei Drittel der befragten Mädchen als Feministinnen bezeichnen. Das ist spannend, aber muss auch diff erenziert gesehen werden: Feminismus ist „modern“. Viele Mädchen leben im Alltag Feminismus, aber er hat eine andere Bedeutung als bei den Frauenbewegungen früherer Generationen. Wie viel Bewusstsein es tatsächlich für Themen wie den Gender Pay Gap gibt, weiß ich nicht.
Zu den Lebensbedingungen: Wir haben gerade eine Untersuchung gemacht, wo wir uns die Stressoren in Familien angesehen haben. Zukunftsängste, familiäre Konflikte, Schul- und Ausbildungsstress belasten Mädchen stärker als Buben.
Raphaela Kohout ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendkulturforschung in Wien.