Wie viel „Klasse“ hat die queer-feministische Praxis? Von NIKOLA STARITZ
Dass „Klasse“ keine zentrale Kategorie in queer-feministischen Analysen darstellt, liegt nicht etwa daran, dass der Klassenwiderspruch aufgehoben wäre oder Kapitalismuskritik im Queer-Feminismus keine Rolle spielt. Es liegt stattdessen daran, dass Ungleichheit oft als Diskriminierung kurzgeführt wird. Der weiße, den globalen industrialisierten Zentren entspringende Feminismus hat sich seit jeher schwer getan mit dem Begriff der „Klasse“: der bürgerliche, weil er der Arbeiter_innenbewegung widerstreitend gegenüberstand, der Pseudo-Feminismus der aktuellen Frauenpolitik, weil er sich im Vorzeigen von Karrierefrauen seines kritischen Anspruchs von selbst entledigt. Der autonome Feminismus ab den 1970ern fokussierte auf die Befreiung von Frauen, Emanzipation im eigentlichen Sinne. Ökonomische Ungleichheit war und ist dort wohl Thema, aber nicht Antrieb des Handelns, dementsprechend spielt „Klasse“ hier keine wesentliche Rolle.
Aber auch der marxistische Feminismus hat es nicht leicht mit der „Klasse“: weil der Mainstream-Marxismus die Ausbeutung der Frauen als Nebenwiderspruch ad acta legt, die Menschheit in genau zwei Klassen teilt – jene der Besitzenden und die der lohnabhängig Arbeitenden, aus deren ausgebeuteter Arbeitskraft erstere Profit schlägt – und jede Ungleichheit eben darauf zurückführt. Gesellschaftliche und materielle Realitäten wie unbezahlte Arbeit (Stichwort Reproduktionsarbeit) oder globale Ungleichheit, die Arbeiter_innen selbst zu Nutznießer_innen der Arbeit anderer macht, geraten so erst gar nicht in den Blick. Und wie steht es um „Klasse“ bei jenen vielfältigen Ansätzen, die sich als queer-feministisch verstehen?
Material Grrrl. Ideengeschichtlich sind queer-feministische Theorien im Gefolge des Cultural bzw. des Discursive Turn anzusiedeln – jener wissenschaftstheoretischen Wendung, die in Abkehr zum Materialismus davon ausgeht, dass Sprache, Kultur und Gesellschaft nicht nur Produkte der Ökonomie, sondern eigenständig und produktiv sind. Nicht alle gesellschaftlichen Realitäten seien aus der kapitalistischen Produktionsweise heraus zu erklären, auch Sprache schaffe soziale Wirklichkeiten. Ziel ist das Brechen mit und das Ent-Naturalisieren von geschlechtlichen und sexuellen Zuschreibungen sowie die Betonung der Zwischenräume, die Platz für vielfältige Ausdrücke von Geschlecht und Begehren ermöglichen sollen. Identität als Produkt und Motor sozialer Verhältnisse ist den materiellen Bedingungen zumindest gleichwertig, der Kapitalismus kommt als Teil des Kritisierten zwar zur Sprache, ist als maßgebliches gesellschaftliches Verhältnis allerdings wenig in die theoretische Analyse eingebunden.
Soziale Herkunft. Thematisch gibt es, der Geschichte queerer Bewegung entsprechend, einen Fokus auf Diskussionen rund um Sex, Gender und Begehren. Aber sowohl in queer-feministischen Projekten als auch in theoretischen Auseinandersetzungen gewinnt die Frage nach dem Zusammenspiel verschiedener „Achsen der Differenz“ an Gewicht. Unter dem Schlagwort Intersektionalität wird diskutiert, wie verschiedene Machtverhältnisse ineinander greifen, sich verstärken oder aufheben. Soziale Identität ist nicht einzig definiert durch z. B. mein Frau- oder Lesbisch-Sein, sondern auch durch Herkunft, Alter, Religion, Aussehen und eben auch soziale Herkunft. War es das Triumvirat Race, Class und Gender, das die feministische Debatte in den USA prägte, so wurde im deutschsprachigen Raum – in Abgrenzung zum Klassenbegriff – die „Klasse“ durch die „soziale Herkunft“ ersetzt.
Kommt es nun im Zuge intersektionaler Ansätze zu einer queer-feministischen Renaissance von Materialismus und des Klassenbegriffs? Einerseits ja, weil tatsächlich in den vergangenen Jahren ein verstärktes Sprechen über ökonomische Ungleichheiten festzustellen ist. Das zeigt sich am queeren Buchmarkt ebenso wie in der Konjunktur des Begriffs „Klassismus“. Klassismus bezeichnet die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft, Zugehörigkeit zur Arbeiter_innenklasse oder bildungsfernen Schicht. Sich als antiklassistisch zu bezeichnen, gehört heute zum guten Ton emanzipatorischer Projekte und findet sich immer öfter in Selbstbeschreibungs-Texten („Wir sind antifaschistisch, antiklassistisch …“). Dabei entsteht oft der Eindruck, dass „Klasse“ als eine Art historisches Relikt mitgeschleppt wird, mit dem keine_r so recht etwas anzufangen weiß.
Where have all the workers gone? Der Anspruch queer-feministischer politischer Praxis, nicht ausschließend zu sein und eine größtmögliche Vielfalt an verschiedenen Menschen und Identitäten miteinander in Auseinandersetzung treten zu lassen, räumt auch der Diskussion um (die eigenen) Privilegien einen großen Raum ein: Wer kann es sich ökonomisch leisten, politisch – und damit unentgeltlich – aktiv zu sein? Wer wagt es zu sprechen, wer kommt an welche Informationen, wie „szenig“ sind wir? Wer versteht überhaupt unsere Sprache?
Nach nahezu jedem ersten Plenum eines queer-feministischen Projekts steht die Frage, wer warum nicht da war. Wo sind die People of Color? Warum sind wir schon wieder ein Akademiker_innen-Verein? Die materiellen Verhältnisse, die verschiedene Menschen mit ungleichen Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten ausstatten, sind also definitiv Thema der Auseinandersetzung. Allerdings wird „Klasse“ zumeist einzig als Merkmal sozialer Ungleichheit verhandelt. Für die queer-feministische politische Praxis bedeutet das, dass zwar viel über Barrierefreiheit und Ausschlüsse geredet wird, aber immer im Kontext von (individueller) Diskriminierung bzw. Privilegierung und des Versuchs, die Partizipation möglichst vieler Personen zu ermöglichen – und nicht etwa vor dem Hintergrund einer strukturellen Gesellschaftsanalyse. Klassismus als Diskriminierung ist zwar Thema, „Klasse“ als Strukturkategorie aber ist es nicht. Das lässt sich u. a. daran ablesen, dass vor allem dann über „Klasse“ diskutiert wird, wenn konkrete Individuen – also zum Beispiel Angehörige der Arbeiter_innenklasse – fehlen.
It’s all about money, honey. Neben Auseinandersetzungen um die Klassenzugehörigkeit als Privileg bzw. Ausschlussgrund gibt es natürlich auch in der queer-feministischen politischen Praxis Projekte, die ganz konkret auf Umverteilung bzw. geldloses Wirtschaften zielen. Besetzungen, kollektivierte bzw. gemeinsam gekaufte Häuser, Kost-Nix-Läden und Tauschzirkel zeugen von einer Auseinandersetzung mit ökonomischen Verhältnissen, die allerdings nicht spezifisch queer-feministisch, sondern allgemein Teil emanzipatorischer linker Politiken ist.
Nicht unerwähnt sei auch die Idee des „Pay as you wish/can“ (alle zahlen, was sie wollen/können), die in queer-feministischen Zusammenhängen wohl am weitesten verbreitete, auf ökonomische Ungleichheit abzielende politische Praxis. Gerade sie ist aber wiederum eine Individualisierung struktureller Ungleichheit, bei der ich oft gegenteilige Effekte beobachtet habe. Der monetäre Wert eines Konsumguts gewinnt an Wichtigkeit, viele (nicht unbedingt jene, die es sich leisten können) bezahlen letztlich „freiwillig“ viel mehr, als sie es bei einem fixen Preis tun würden – und können sich darüber nicht einmal beschweren. Ob die Gründe dafür Angst vor sozialer Stigmatisierung, Unsicherheit oder falsche Höflichkeit sind, sei dahingestellt. „Pay as you wish“ oder Klassismus-Diskussionen erscheinen wiederholt als Scheingefechte, die aber immerhin die Notwendigkeit einer stärkeren und systematischen Einbeziehung materialistischer und kapitalismuskritischer Positionen anzeigen.
Mehr Klasse! Die Beschäftigung mit Klassenverhältnissen geschieht in der queer-feministischen Praxis oft nicht vor dem Hintergrund einer Kapitalismusanalyse, sondern über den Begriffsumweg des Klassismus. Eben das passiert, wenn Klassenzugehörigkeit ausschließlich auf Ebene der Identität relevant erscheint, es also in erster Linie darum geht, Differenzen innerhalb von Gesellschaften, Communitys, Plena und Projekten zu beschreiben. Klassenzugehörigkeit ist damit ein weiterer „gesellschaftlicher Marker“, der meine multiple soziale Identität ausmacht.
Aber ebenso wie die Verkürzung des „Kampfs gegen sexistische Diskriminierung“ zwar auf die Effekte der Diskriminierung von Frauen, aber nicht zwangsläufig auf die Abschaffung der Ursache dieser Ungleichheit zielt, will Antiklassismus die Gleichberechtigung aller Klassen. Und ebenso wie, und diese Erkenntnis verdanken wir queerer Theorie, eine wirklich antisexistische Gesellschaft nicht möglich ist ohne die Überwindung des binären Geschlechtersystems von Mann und Frau, kann es keine Gleichberechtigung der Klassen geben ohne ihre eigene Überwindung und damit die Abschaffung des Kapitalismus selbst.
Nikola Staritz ist Politikwissenschaftlerin und Redakteurin der Zeitschrift „MALMOE“ (www.malmoe.org).