In Indien werden Frauen weiterhin massiv diskriminiert, gleichzeitig ist der Subkontinent gesellschaftspolitisch stark im Umbruch. Vor allem junge Frauen in den Städten erkämpfen sich Raum und Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit. Reportage von IRMI WUTSCHER
Seit der brutalen Gruppenvergewaltigung und Ermordung der Studentin Jyoti Singh in Neu Delhi im Dezember 2012 ist Indien im Westen vor allem mit weiteren Stories über Gewalt an Frauen in den Schlagzeilen. Derzeit etwa mit den Ereignissen der Silvesternacht in Bangalore, wo es zahlreiche sexuelle Übergriffe gegen Frauen gab. Gleichzeitig versuchen Feuilletons, Sachbücher und Dokumentarfilme das indische Frauenbild zu erkunden und zeichnen dabei entweder ein Bild mittelalterlicher Unterdrückung oder das eines Landes im Umbruch, in dem gesellschaftspolitisch vieles neu verhandelt wird. Doch welche Variante stimmt denn nun?
Indien, das seit 2014 von der rechtskonservativen hindunationalistischen BJP unter Präsident Narendra Modi sehr wirtschaftsfreundlich regiert wird, ist ein Subkontinent mit 1,2 Milliarden Einwohner_innen und alleine 22 offiziellen Amtssprachen. Indien muss also als ungefähr so divers wie Europa angesehen werden, weshalb ganz Indien betreffende Aussagen höchst schwierig sind. Doch zumindest so viel lässt sich sagen: „Indien ist ein Land der Widersprüche“, meint Bijayalaxmi Nanda, Professorin für Gender Studies am Miranda House, einem Frauen-College in Delhi. Jyoti, die ermordete Studentin, gilt dabei als Vertreterin einer neuen Generation junger indischer Frauen aus der Mittelschicht, die mit der finanziellen Unterstützung ihrer Eltern versucht, über Bildung gesellschaftlich aufzusteigen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Ja, ein wachsender Teil junger Frauen in Indien ist wie Jyoti“, sagt Nanda. „Noch immer ein sehr kleiner Teil der Gesamtbevölkerung, aber es gibt ihn. Doch gleichzeitig gibt es Frauen, denen zum Beispiel das Recht verweigert wird, sich selbst den Ehepartner auszusuchen, die – auch in der Stadt – nicht alleine das Haus verlassen dürfen. Beides existiert nebeneinander.“
Feministisches Momentum. 2012, nach Jyotis Ermordung, hat es in ganz Indien breite Protestbewegungen gegen Gewalt an Frauen gegeben, die auch im Westen mit großem Interesse verfolgt wurden. Viele der Feministinnen, die ich treffe, nennen 2012 als Ausgangspunkt für eine Wiederbelebung feministischer Bewegungen, alles habe neuen Schwung bekommen. „Damals haben sich junge Männer und Frauen verbündet und gemeinsam protestiert“, erzählt mir Urvashi Butalia, Gründerin des feministischen Verlags Zubaan und eine der bekanntesten Feministinnen Indiens. Viele feministische Bewegungen hat es aber schon zuvor gegeben. So hatten Frauengruppen damals bereits seit zehn Jahren mit der indischen Regierung über eine Aktualisierung des Strafgesetzes zu Vergewaltigung verhandelt. Sie forderten, dass Gruppenvergewaltigungen berücksichtigt werden müssten, ebenso wie Vergewaltigung in der Ehe, die nach wie vor kein Straftatbestand ist. Auch die Definition von Vergewaltigung müsse neu formuliert werden – das Gesetz dürfe nicht wie bisher nur Penetration umfassen. „Und dann kam 2012 und hat alles mit sich gerissen“, sagt Butalia. „Die Leute glauben, nur deswegen ist etwas passiert, ähnlich ist es bei anderen feministischen Bewegungen. Dabei gibt es schon länger eine erstarkende Transgender- und Pride-Bewegungen. Es gab den Slutwalk und es gibt Pinjra Tod.“
Regeln brechen. Die Studentinnen von Pinjra Tod („den Käfig aufbrechen”) werden gegen die rigiden Regeln aktiv, die die indische Gesellschaft für Frauen hat. Im Fall der Organisation Pinjra Tod sind das ganz handfeste Regeln: Wer in Indien während des Studiums nicht bei den Eltern wohnt, kommt in der Regel in einem Hostel, einer Art Studentenheim, unter. Die Hostels sind streng nach Geschlechtern getrennt und dabei gelten auch unterschiedliche Gebote für Männer und für Frauen. Studentinnen müssen teilweise schon um 19.30 Uhr zurück im Wohnheim sein, danach wird zugesperrt. Immer wieder gibt es sogenanntes „Moral Policing“, bei dem die Hostel- oder die Universitätsleitung Verhaltensregeln für Frauen aufstellt, zum Beispiel was Kleidung (nicht zu freizügig) oder Dating betrifft (nicht erwünscht). Im schlimmsten Fall droht bei Verstoß sogar der Rauswurf aus der Universität. Für Männer sind die Vorgaben bei Weitem nicht so streng.
Gegen diese Ungleichheit kämpft Pinjra Tod zum Beispiel mit organisiertem Ungehorsam an: Bei Nachtmärschen bleiben die Studentinnen länger aus, als es die Hostelregeln erlauben, und machen auf der Straße Lärm – das hat zum Beispiel im vergangenen Oktober für einige Aufmerksamkeit und Schlagzeilen gesorgt. „Es geht nicht nur um die Sperrstunden“, sagt die Aktivistin Kawalpreet Kaur zur „Hindustan Times“. „Es geht im Endeffekt um unseren Platz im öffentlichen Raum.“
Aktiv Herumlungern. Auch die Frauen von „Why loiter?“ nehmen sich die Straße bevorzugt bei Nacht. Aber auf subtilere Weise: „Wir tun nichts. Das ist die zentrale Idee“, erklärt Neha Singh, die Why loiter? nach der Lektüre des gleichnamigen Buchs (1) als Ein-Frau-Initiative gestartet hat. Der Gedanke dahinter: Frauen sind in Indien im öffentlichen Raum kaum präsent. Man sieht sie nur dann im Zug, im Park, auf der Straße, wenn sie einer Tätigkeit nachgehen: Sie fahren zur Arbeit, kaufen ein oder sind mit Mann und Kind unterwegs. Neha hat begonnen, in Mumbai auf öffentlichen Plätzen herumzulungern, zum Beispiel bei einem Stand in Ruhe Tee zu trinken. Sie hat Fotos davon geschossen und via Twitter und Facebook verbreitet. Das hat zu großer Resonanz und Nachahmerinnen geführt. Mittlerweile gibt es sogar einen Ableger in Pakistan.
Die Frauen von „Why loiter?“ sind nicht mit Banner und T-Shirt unterwegs und deklarieren sich nicht als Aktion. Es sind einfach Kleingruppen von Frauen, die sich in der Nacht an der Straßenecke hinsetzen und rauchen und reden oder Fahrrad fahren oder im Park Spiele spielen. Das alleine ist in Indien schon eine Provokation, berichtet Neha. Die Reaktion der Männer reicht von Anstarren und Anmachen bis hin zu Masturbieren, alles schon vorgekommen. „Die meiste Aufmerksamkeit bekommen wir aber von der Polizei“, sagt Neha. „Sie sagen: ‚Es ist gefährlich hier, geht nach Hause. Ihr seid doch Mädchen aus gutem Hause, keine Sexarbeiterinnen. Wenn euch was passiert, dann ist wieder die Polizei schuld.‘“
Allerdings führe das Herumlungern auch oft zu konstruktiven Gesprächen mit Männern, meint Neha. „Nach längerem Gespräch sehen sie oft ein, dass Frauen ein Recht haben, im öffentlichen Raum einfach abzuhängen.“ Deswegen sei Why loiter? auch so einfach wie wirksam: „Es funktioniert nach dem Lustprinzip, nicht mit Wut oder Ärger. Jede Frau – egal, ob sie bei Why loiter? mitmacht oder nicht – sollte herumlungern können.“
Hotspots schaffen. Auch wenn viele kleinere und größere Initiativen in Indien mehr Platz und Sichtbarkeit für Frauen im öffentlichen Raum erkämpfen, handelt es sich derzeit noch um die Aktionen einiger weniger Privilegierter. „Ich würde eher von Hotspots sprechen als von einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung“, meint deshalb Bijayalaxmi Nanda. Und je mehr Freiheiten sich Frauen nehmen, desto stärker wird auch der Backlash: Laut indischer Statistik zu Gewalt an Frauen (2) steigt diese seit 2010 kontinuierlich an. „Frauen in Mangalore oder Bangalore wurden attackiert, weil sie in Pubs waren und Alkohol getrunken haben. Frauen, die nachts alleine auf der Straße waren, wurden vergewaltigt“, sagt Nanda. „Der Backlash wird stärker, je mehr Frauen das Bedürfnis ausdrücken, sich diese öffentlichen Orte zu nehmen.“
Aber zumindest an den Hotspots tut sich etwas. Und vielleicht sind es ja irgendwann tatsächlich Frauen, die in Gruppen beim Chaiwallah (3) stehen und die Passant_innen begutachten.
Irmi Wutscher war im Rahmen des Austauschprogramms „Media Ambassadors India – Germany“ der Robert-Bosch-Stiftung in Indien und hielt sich im Pendler_innenzug zur Belustigung vieler Inder_innen wegen des frischen Fahrtwindes am liebsten auf dem Boden neben der Zugtür auf.
(1) Shilpa Phadke, Sameera Khan and Shilpa Ranade: Why Loiter? Women And Risk On Mumbai Streets, Penguin Books 2011
(2) IndiaCrimeReport
(3) Chaiwallahssinddiefür das indische Straßenbild typischen Teeverkäu-fer_innen. Auch Indiens Präsident Narendra Modi war früher ein Chaiwallah.