Für viele Menschen mit psychischen Erkrankungen erwies sich der Lockdown als ein Aufatmen inmitten kollektiver Überforderung – aber auch die Existenzängste nehmen drastisch zu. Von Beatrice Frasl
Gleich zu Beginn der Krise drängte sich mir die Beobachtung auf: Jene Menschen in meinem Umfeld, die mit Depressionen und Angsterkrankungen kämpften, schienen erstaunlich gut zurechtzukommen. Der Kontrollverlust schien für sie keine neue Erfahrung zu sein. Auch das Erleben der eigenen Fragilität nicht. Der Lockdown wurde von vielen als starke Entlastung empfunden. Ich selbst hatte den Eindruck durch meine Erfahrung mit Depressionen auf die Ausnahmesituation besser vorbereitet zu sein als manch psychisch „Gesunde“.
Psychische Erholung. Als ich gegen Ende der Ausgangsbeschränkungen auf Instagram die Frage nach dem Wohlbefinden meiner Follower_innen stellte, war die häufigste Antwort von Personen mit präexistierenden Erkrankungen die zum Ausdruck gebrachte Erleichterung über das Wegfallen von Druck und Verpflichtungen durch die Ausgangsbeschränkungen. Darauf folgt nun Angst vor den Lockerungen und den gesellschaftlichen und beruflichen Ansprüchen, die mit den Lockerungen einhergehen. Eine Followerin bezeichnete den Lockdown als „heilig“. Eine andere betonte, er wäre seit Jahren die erste Möglichkeit gewesen, sich psychisch zu erholen. Diese Beobachtung machte auch die Psychotherapeutin Barbara Haid, die im Österreichischen Verband für Psychotherapie aktiv ist. Sie berichtet vom Beispiel einer depressiven Patientin, „die sich plötzlich viel besser gefühlt hat, weil niemand Ansprüche an sie gestellt hat. Sie musste sich nicht mit Freundinnen treffen, weil alle zu Hause bleiben mussten.“
„In meiner Praxis erlebe ich durchaus, dass Menschen die die – wenn auch unfreiwillige – Entschleunigung als entlastend erlebt haben. Auch der Wegfall von Sozialkontakten wurde nicht von allen als negativ bewertet. Manche waren direkt erleichtert, dass das für sich bleiben plötzlich positiv bewertet wurde“, so Psychotherapeutin Raffaela Kellner (@raffaelakellner_psychotherapie auf Instagram). Dies ist, so Barbara Haid, auch nicht weiter überraschend: „Der Druck, der Stress, die Erwartungen von Seiten der Gesellschaft an uns Menschen, gekoppelt mit den eigenen (Selbst-)Ansprüchen und den Idealen und Werten der Systeme haben zu einem Zustand geführt, der früher oder später zum totalen Zusammenbruch geführt hätte. Durch den Lockdown hatten wir plötzlich die „Erlaubnis“ nicht/weniger/anders zu arbeiten.“
Die Entlastung war jedoch nur von kurzer Dauer und betrifft auch nur bestimmte Gruppen, betont Haid, da viele im Lockdown mehr arbeiteten als jemals zuvor.
Die Kurzfristigkeit der Entlastung zeigt sich auch in der zweithäufigsten Antwort auf meine Frage: Diese beinhaltete nämlich Existenzängste und große Belastung durch die finanziellen Folgen der Krise.
Existenzängste. Eine Online-Befragung der Donau-Universität Krems Anfang Mai hatte zum Ergebnis, dass sich in Folge von Corona depressive Symptome in der österreichischen Bevölkerung von vier auf zwanzig Prozent vervielfachten. Angstsymptome erhöhten sich auf 19 Prozent, ähnlich sieht es mit Schlafstörungen aus: Unter diesen litten 16 Prozent der in der Studie Befragten. Die Donau-Universität konstatiert außerdem, dass insbesondere Menschen unter 35, Frauen und erwerbsarbeitslose Menschen von einer Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit betroffen sind. Auch Barbara Haid beobachtet in ihrer psychotherapeutischen Praxis „tiefgreifende“ und „umfassende“ Auswirkungen auf die psychische Gesundheit ihrer Klient_innen: „Die Probleme sind vielfältig, wobei vermehrt Angst, Depression und Substanzmissbrauch zu bemerken ist. Die Angst um die Arbeit sowie finanzielle Einbußen stehen stark im Vordergrund.“
Dass die Corona-Krise zu verschlechterter psychischer Gesundheit führt, ist auf den ersten Blick nicht weiter verwunderlich, schließlich ist die aktuelle Situation mit vielen Belastungen verbunden, die sich durch den angeordneten Rückzug, das Wegfallen von Strukturen und die soziale Isolation ergeben. Hinzu kommt die Angst vor der Infektion selbst, sowie vor Erkrankung und dem Tod anderer. In weiterer Folge führt die Corona-Krise für viele zu Existenzängsten und finanziellen Sorgen durch Kurzarbeit, Erwerbsarbeitslosigkeit oder den Wegfall von Aufträgen. Außerdem verschärfen sich für viele – insbesondere Frauen – Mehrfachbelastungen: Sie müssen nun neben der Erwerbsarbeit zuhause auch noch Kinder bei ihren Schulaufgaben betreuen. Jene – auch größtenteils Frauen – die nicht im Homeoffice, sondern in sogenannten „systemrelevanten“ Berufen arbeiten, sind an ihrem Arbeitsplatz in der Regel erhöhtem Arbeitsdruck und Infektionsrisiko ausgesetzt. Diese höheren Belastungen durch Erwerbsarbeit finden zudem zeitgleich mit einem Wegfallen des Ausgleichs durch Sozialleben und Freizeitbeschäftigungen auf der einen und zusätzlichen Betreuungspflichten zuhause statt. Die sozioökonomischen Bedingungen, unter denen der Lockdown durchgestanden wurde, sind hierbei hochrelevant: Faktoren wie Armut, prekäre Beschäftigung, Überarbeitung, beengte Wohnverhältnisse, belastende Partnerschaften, Gewalt in der Familie sind nämlich auch außerhalb von Krisen (geschlechtsspezifische) Risikofaktoren in der Entstehung von Depressionen und verschärfen sich in Krisen drastisch.
Retraumatisierend. Das Wegfallen von Routine und Tagesstrukturen stellt eine große Herausforderung dar – nicht nur, aber besonders für Menschen mit bereits bestehenden psychischen Erkrankungen. Barbara Haid konnte durch den Verlust gewohnter Ablenkungen eine Verstärkung von bereits davor bestehenden Problemen beobachten: „Themen, die vorher schon latent vorhanden waren, sind in dieser Zeit vermehrt und verstärkt zum Ausdruck gekommen. Manche werden auch noch zeitverzögert kommen.”
Durch die Isolation und das Auf-Sich-Selbst-Zurückgeworfen-Werden können bereits verarbeitet geglaubte Traumata, schmerzhafte Verluste oder Krankheitssymptome wieder aktualisiert werden. Neben der Verschlimmerung von Krankheitssymptomen kann die Corona-Krise selbst retraumatisierend wirken: „Die Isolation und die große Unsicherheit hat für manche zu ‚Retraumatisierungen‘ geführt. Eingesperrt sein führt auch vermehrt zu Triggersituationen und Flashbacks“, so Haid.
Corona bedeutete zudem das Erleben kollektiven Kontrollverlustes und Ausgeliefert-Seins. Die sonst ausgeblendete Fragilität der eigenen Existenz wurde uns vor Augen geführt. Einer Gesellschaft, die der Überzeugung war, sich die Natur Untertan gemacht zu haben, wurde plötzlich die Unkontrollierbarkeit und Gefährlichkeit dieser Natur vor Augen geführt. Und während vergleichbare Krisen in der Regel gemeinsam mit anderen durchgestanden werden können, verpflichtete uns Corona zu Isolation und Physical Distancing.
Raffaela Kellner ordnet die Situation folgendermaßen ein: „Was wir alle erleben mussten, ist ein Wegfall der Gewissheit, der Zuverlässigkeit, des Vertrauens in unsere Welt. Alles war plötzlich anders, unsere Sicherheiten waren und sind weg.“
Die Corona-Krise ist noch nicht vorbei. Ihre psychosozialen Folgen sind noch nicht absehbar. Es gibt keine Langzeitstudien, die man zur Recherche heranziehen könnte, nur Prognosen, Momentaufnahmen und eine Fülle teils sehr widersprüchlicher Erfahrungen.
Aber auch wenn die Konsequenzen der Krise vielfach noch nicht abzusehen sind, in einer Sache sind sich alle befragten Betroffenen und Therapeut_innen einig: Psychotherapie muss endlich zur Gänze von den Krankenkassen übernommen werden. Gefordert ist keine bloße Aufstockung, sondern eine Abschaffung der Kontingente von kassenfinanzierten Therapieplätzen. Barbara Haid: „Patient_innen mit psychischen Erkrankungen brauchen sofort Hilfe. Ein gebrochenes Bein kann auch nicht warten, bis das Kontingent erhöht wird“, sagt Barbara Haid.
Beatrice Frasl ist Kultur/Geschlechterforscherin, Vortragende, Universitätslektorin, betreibt den feministischen Podcast “Große Töchter” und nutzt ihren Instagram-Account @fraufrasl (auch) zur Enttabuisierung psychischer Erkankungen.