Die Shows von Florentina Holzinger werden in der internationalen Theater- und Performanceszene gefeiert. Clementine Engler hat die Choreografin während des ImPulsTanz in Wien getroffen und mit ihr über Ballett-Tradition, nackte Körper und Publikumsreaktionen gesprochen.
Nicht grundlos werden Holzingers Vorführungen, die immer schnell ausverkauft sind, mit Altersbeschränkung und Triggerwarnung angekündigt, denn garantiert fließen jede Menge Blut und Körperausscheidungen. Auch selbstverletzende und sexuelle Handlungen werden explizit gezeigt.
Gemeinsam mit ihrem Team inszeniert die Wiener Choreografin ausufernde Shows, die vor wenig haltmachen. Schwierige Themen scheinen mit reichlich Humor verdaulich. Ihr Selbstanspruch ist es, immer neue Disziplinen zu lernen: Kampfsport, Zirkus, Stunts, Side- und Talentshoweinlagen. Unterhaltungsformen, die zumeist als profan abgetan werden, holt Holzinger auf die klassische Theaterbühne. Und während die Performer*innen in jeder Vorstellung physische Höchstleistungen erbringen, durchlebt das Publikum ein Wechselbad der Gefühle – von Faszination zu Schönheit zu Ekel und von Angst zu Freude.
an.schläge: Du arbeitest mit vielfältigen Referenzen. Wünscht du dir, dass diese verstanden werden oder reicht es, wenn sich manche einfach gut unterhalten fühlen?
Florentina Holzinger: Das ist alles voll okay für mich. Wir haben auch masturbierende Männer in unserem Publikum und selbst das ist okay für mich. Ich will mein Publikum nicht kontrollieren. Wir gehen in unseren Shows in ein Experiment, bei dem das Publikum Teil ist. Performance-Arbeit hat in diesem Sinne das Potenzial, Aufschluss über Menschen, über eine Gesellschaft zu geben. Eine Publikumsreaktion erzählt unglaublich viel, auch darüber, was eigene Aktionen auslösen können. Ich habe überhaupt keine Naivität in Bezug auf Nacktheit. Manche finden das einfach geil, andere finden, dass das Hochkultur ist. Wenn meine Shows unterhalten, umso besser. Ich schau mir auch lieber eine Show in Vegas an als minimalistische Performance. Geht zwar auch, aber Unterhaltung dient als Verführungsmoment, die Menschen hineinlockt, um sich dann mit komplizierteren Themen zu beschäftigen. Den Mechanismus nutzen wir.
Warum performt ihr nackt?
Darauf gibt’s zigtausend Antworten. Die dummen: Es ist am billigsten und ich interessiere mich nicht für Fashion. Mich interessiert der Körper als Material, die Haut, das Fleisch. Anziehsachen lenken mich ab, bedecken Sachen, auch Inhalte. Aber auch Nacktheit ist ein Kostüm. Ich arbeite mich sehr stark an dem Thema ab, an dem erotischen Potential von Performance, der visuellen Erfahrung von weiblich gelesenen Körpern, dem sexualisierten Körper, an Blickpolitiken. Wir wollen den Körper bei der Arbeit zeigen.
Und es ist auch eine ästhetische Entscheidung. Wir beziehen uns viel auf Tanzgeschichte, Theatergeschichte, Kunstgeschichte. Jede*r kennt diese barocken Bilder von nackten Frauen im musealen Kontext. Für unsere kommende Show arbeiten wir intensiv mit Wasser. Und da finden sich immer wieder diese Badenden. Warum sollte ich die plötzlich in Speedos darstellen?
Beim diesjährigen ImPulsTanz Wien warst du mit „TANZ – eine sylphidische Träumerei in Stunts“ vertreten. Der Titel verrät bereits einen Genremix, der deiner künstlerischen Handschrift entspricht. Wie bringst du das klassische Ballett „La Sylphide“ und die Stuntshow zusammen?
Die romantischen Ballette des 19. Jahrhunderts können auch schon als Action-Ballette verstanden werden. Damals fanden es die Leute voll geil, komplexe Mechanismen zu entwickeln, wie eine Unterbühne unter der sichtbaren Bühne, um Sachen zu versenken und zu katapultieren. Oder Systeme, um die Ballerinas schweben zu lassen. In Folge kam es natürlich zu vielen Unfällen. Tatsächlich waren das Stuntshows, auch wenn sie nicht so benannt wurden.
Diese Mechanismen sollten eine Illusion erzeugen und waren für die populären Themen der Romantik – Feenwesen und andere nicht-menschliche Kreaturen – sehr interessant. Für mich das Faszinierende am Theater: Wie kann eine gewisse Magie eingefangen werden? Wie können die Feenwesen ein Leben bekommen? Wie kann ein Ballett-Unterricht als Training verstanden werden, das nicht gegen den Körper arbeitet, sondern für eine*n nützlich ist?
Eine Szene in „Tanz“ stellt einen klassischen Ballett-Unterricht nach. Die 80-jährige Beatrice Cordua performt als Lehrerin, drillt, diszipliniert und wird sexuell übergriffig. Zeitgleich zur Uraufführung wurden Missstände an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper öffentlich, die dem sehr nahekommen.
Die meisten Erfahrungen aus meiner eigenen Tanzpraxis in Schul- und Akademiesituationen würden sich hervorragend eignen, um Szenen zu entwerfen, die wie ärgste Parodien wirken. Natürlich überspitzen wir und lassen es in eine pornografische Richtung entgleisen. Aber solche Sachen passieren im Kern schon. Das bleibt oft sehr verschwommen. In der Unterrichtsszene wollten wir die Kompliziertheit darstellen. Die Schüler*innen stellen keine klischeehaften Opfer dar, wir wollten die Umkehrung in etwas Empowerndes schaffen und untersuchen, wo innerhalb des rigiden Trainings, dem sich die Schüler*innen unterwerfen, trotzdem Spaß am Körper entstehen kann.
Deine frühen Produktionen sind in Zusammenarbeit mit dem Choreografen Vincent Riebeek entstanden. Seit einiger Zeit arbeitest du mit einem rein weiblich gelesenem Cast. Warum diese Entscheidung?
Ich wollt mich speziell mit dem weiblich gelesenen Körper auseinandersetzen. In all diesen Shows – „Recovery“, „Apollon“ und „Tanz“ – spielt die Ballett-Tradition eine zentrale Rolle. Ich wollte Körper inszenieren, die diese spezifische Erfahrung gemacht haben, die diese Erfahrung mitbringen. Und die habe ich in diesem Cast gefunden. Ich weiß nicht, ob ich für einen cis Mann bereit wäre. Gleichzeitig bin ich es aber auch leid, immer in die Frauen-Schublade gesteckt zu werden. Mir ist es wichtig mit Leuten zu arbeiten, die zu einem Thema Unterschiedliches sagen können. Das ist aktuell nicht mehr dezidiert geschlechtsabhängig.
Medien rezipieren dich häufig als extrem, provokant, pornografisch. Sind das Zuschreibungen, mit denen du dich identifizieren kannst?
Ich bin vom Tanz- ins Theaterpublikum reingerutscht. Dadurch hat sich viel in der Rezeption verändert. Die Arbeit mit Vincent war wohl am trashigsten, da haben wir die derbsten Kommentare bekommen. Da gab’s noch keine Reputation im Sinne: „Das kann schon ernstgenommenes Theater sein und bekommt ‚beste Regie‘ bei so einem Old-School-Theater-Preis.“ Eigentlich kommt es aber darauf an, wer darüber schreibt. Im Tanz sind die Leute informierter, im Theater fehlt das Vokabular, für das, was wir tun. Dann rutscht viel in die Richtung: „Da kacken sie auf der Bühne!“ Die Frage, wo gehören wir dazu, war schon immer ein Ding. Ich verstehe mich definitiv als Choreografin und nicht als Regisseurin. In einem Theaterkontext können wir trotzdem existieren. Generell habe ich mir schon früh angewöhnt, die Labels an mir abperlen zu lassen. Als Künstler*in ist die unterschätzte Position die beste. Wenn Leute sagen, das ist Trash, dann gibt es nur einen Weg – nach oben. •
Holzingers aktuelle Show „Ophelia’s Got Talent“ ist seit Mitte September an der Volksbühne Berlin zu sehen und tourt ab 2023 durch weitere Städte.