Die feministische französische Philosophin Manon Garcia hat ein so bahnbrechendes wie packendes Buch geschrieben: „Mit Männern leben. Überlegungen zum Pelicot-Prozess“. Julia Pühringer hat sie zum Gespräch getroffen.
Manon Garcia begreift Philosophie als feministisches Werkzeug, um die Strukturen des Patriarchats unter die Lupe zu nehmen. Bereits in „Wir werden nicht unterwürfig geboren. Wie das Patriarchat das Leben von Frauen bestimmt“ erkundete sie auf den Spuren von Simone de Beauvoir, wie es um die Wahlfreiheit der Frauen im Patriarchat bestellt ist. „Das Gespräch der Geschlechter“ wiederum widmet sich der Philosophie des sexuellen Konsens und seinen rechtlichen, moralischen und politischen Fragen. Im Zentrum steht bei allen Texten von Garcia die Frage danach, wie sich geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten in unseren täglichen Beziehungen manifestieren. Für „Mit Männern leben“ hat Manon Garcia den Fall Pelicot begleitet. Garcia dokumentiert den historischen großen Prozess, „der zeigt, dass Prozesse niemals ausreichen werden“. Die Frage, die Garcia stellt, ist beängstigend, weil wir die Antwort kennen: „Könnte es sein, dass ein Otto Normalbürger bereitwillig die schlafende Frau seines Nachbarn vergewaltigt, wenn man ihm die Gelegenheit dazu gibt?“ Hätte Gisèle Pelicot ohne die #MeToo-Bewegung den Prozess öffentlich stattfinden lassen? Vermutlich nicht. Hätte ein Opfer ohne Beweise auf Videos eine Chance gehabt? Vermutlich auch nicht.
an.schläge: Je mehr man die Situation von Frauen erforscht, desto mehr klingt man wie eine Verschwörungstheoretikerin, kennen Sie das Gefühl?
Manon Garcia: Ja, das ist wahr. Aber es ist natürlich interessant, dass Männer sagen, es kann doch gar nicht so schlimm sein, wenn sie im Alltag zulassen, dass es so schlimm ist. Auch die besten Typen sind Komplizen des Patriarchats.
Es ist halt irre leicht, „ein guter Typ“ zu sein, die Latte liegt nicht hoch.
Es gibt diesen Witz: „A guy walks into a bar because it is so low.“
Ist der Kampf für Feminismus derselbe wie der gegen den Faschismus? Oder ist das zu vereinfacht dargestellt?
Ich fürchte, das ist zu optimistisch: Es wäre toll, wenn nur die Faschisten klassische Antifeministen wären. Es ist möglich, dass die deutsche Linke nicht so sexistisch ist wie die französische, aber Sexismus ist wirklich überall. Gerade eben war das allererste Mal eine Frau mit ihrem Baby im Bundestag! Als ich mein erstes Kind bekam, hatte ich eine sehr fancy Postdoc-Stelle in Harvard, die es seit fast hundert Jahren gibt. Ich und eine Frau, die ihr Kind zwei Wochen vor mir bekam, waren die ersten beiden Frauen, die währenddessen ein Kind bekamen.
In Österreich – und das ist in Frankreich sicher ähnlich – gibt es einige männliche Philosophen, die in Talkshows herumgereicht werden, egal zu welchem Thema. Ich denke mir dann immer, die weiße männliche Perspektive wird uns in den aktuellen Katastrophen nicht weiterhelfen.
Das ist der Unterschied: Ich spreche nicht über Fragen, bei denen ich keine Expertin bin. Es stimmt natürlich, viele Männer haben nicht so viele Bedenken, was die Autorität ihrer Aussagen betrifft. Aber die Lösung ist letztlich nicht, das Selbstbewusstsein eines mittelmäßigen weißen Mannes zu haben, ich will ja nicht, dass mehr Leute so sind, sondern eher weniger.
Auf eine Weise wirkt es, als hätten Ihre früheren Bücher direkt zu diesem geführt. Stimmt das?
Ich habe diesen Gerichtsprozess nicht als Philosophin besucht, sondern als Expertin für die Themen, die er behandelt. Ein Anwalt von Gisèle Pelicot hat sich auch stark auf meine Arbeit bezogen, er meinte, es war das wichtigste Buch bei seiner Vorbereitung. Also dachte ich, ich bin auf eine Weise sowieso Bestandteil des Prozesses und ich bin quasi aus der Bibliothek in die richtige Welt gezogen.
Sie zitieren sehr viele Expertinnen in Ihrem Buch und auch die Sprache ist inklusiver – war das Absicht?
Mein Deutsch ist inzwischen besser (lacht), das Buch war das erste, bei dem ich auch die deutsche Übersetzung gelesen habe. Da habe ich dann gesagt, wo es eine inklusivere Sprache braucht. Von wegen Expertinnen: Ganz ehrlich, es arbeiten einfach kaum Männer zu den Themen, die ich interessant finde.
Die Dinge, über die Sie schreiben, sind fürchterlich, gleichzeitig schreiben Sie aber über den Akt des Darüber-Schreibens, darüber, wie man eine adäquate Sprache dafür findet. Wie war das, abends nach dem Prozess auch noch diese neue Sprache zu finden?
Die Frage stellte sich mir eher, weil ich stinksauer war darüber, wie andere über den Prozess geschrieben und gesprochen haben. Wenn man stinksauer ist wegen des Zustands der Welt und die eigene Arbeit als eine Art Wiedergutmachung betrachtet, dann ist das tatsächlich eine beruhigende Tätigkeit.
Auch, den Ärger dazu zu verwenden, die Probleme zu beschreiben, die hinter dem Prozess stehen, die andere Leute gar nicht sehen.
Ich wollte mir eigentlich nur zwei Tage lang die Atmosphäre anschauen. Aber dann ist mir klargeworden, es reicht nicht, den Fall nur über die Zeitungen zu verfolgen, weil diese Journalistinnen und Journalisten nicht sehen, was ich sehe. Sie waren Reporter:innen, aber keine feministischen Philosoph:innen.
Wie können wir die Welt ändern zu einer Gesellschaft, in der so etwas wie der Fall Pelicot nicht länger möglich ist?
Als Philosophin kann ich den Menschen Konzepte geben, die die Gesellschaft so verändern, dass sich die Welt verändert. Meine Mutter hat Deleuze, Foucault und Lacan gelesen – ich habe versucht, das zu verstehen, aber ich bin gescheitert. Ich war 15 und dachte, diese Typen sind angeblich links, aber sie schreiben so, dass man sich ausgeschlossen fühlt. Ich möchte in einer Weise schreiben, die Menschen Werkzeuge gibt, um anderer Meinung zu sein. Das habe ich mit diesem Buch versucht: Werkzeuge zu schaffen, mit denen man diesen Prozess verstehen kann, aber auch andere Dinge im Leben oder auch über eine selbst. Dafür sind die Geisteswissenschaften da.
Ich kenne das Gefühl gut aus dem Kino. Bei all diesen Filmen, die man unbedingt gesehen haben musste, fühlte ich mich als 15-Jährige nicht mitgemeint. Die ganze Nouvelle Vague ist so irre misogyn.
Ich habe in einer Lehrveranstaltung in den USA „Außer Atem“ von Jean-Luc Godard gesehen und habe meine Mutter angerufen und gefragt, was zur Hölle ist los mit deinem Freund. Kino bildet natürlich die Welt ab, in der wir leben. Ich finde das bei all diesen Cancel-Culture-Diskussionen sehr erfrischend: Wie cool ist es, dass wir inzwischen Woody-Allen-Filme sexistisch finden. Das bedeutet, die Welt hat sich geändert. Das, was früher normal schien, wirkt heute völlig bizarr.
Im Buch über die Unterwerfung sprechen Sie auch darüber, warum Frauen manchmal bei diesem Spiel mitspielen. Manchmal lohnt es sich und man wird nicht so gehasst, wie wenn man sagt: Das ist doch alles völliger Mist.
Oder es gibt die dritte Option: Du bist cool, sagst deinem Mann: Ich mach diese Sexsachen nicht mehr, die du möchtest. Ich bin zu alt für den Scheiß. Du kannst gern mit anderen Frauen schlafen, lass mich in Ruhe. Und am nächsten Tag beschließt dein Mann, dass er dich unter Drogen setzt. Weil: Wer glaubst du eigentlich, dass du bist? Er hat das wirklich so gesagt, es war sein Ziel, eine nicht unterwürfige Frau zu unterwerfen. Das hat völlig verändert, wie ich darüber denke. Wir werfen Frauen vor, wenn sie sich unterwerfen, aber wenn sie es nicht freiwillig tun, werden sie gezwungen, sich zu unterwerfen. Es gibt Statistiken, die sich damit beschäftigen, warum Frauen Sex akzeptieren, den sie nicht wollen. Und Grund Nummer eins ist, dass sie nicht vergewaltigt werden wollen. Es ist also besser, Sex zu haben, den man nicht will, als dazu gezwungen zu werden. Frauen wissen ganz genau, wenn sie nicht freiwillig den Wünschen der Männer nachgeben, wird man sie dazu zwingen.
We are so fucked.
Ich weiß nicht, das ist ganz offensichtlich nicht mein optimistischstes Buch, aber wir hielten vieles davon für unveränderlich, und inzwischen gibt es ganz andere Vorstellungen davon, wie Sex aussehen kann. Es gibt Hoffnung, dass Beziehungen zwischen Mann und Frau anders aussehen können. Wenn konservative Männer ein toxisches Männlichkeitsbild vertreten, liegt das u. a. daran, wie sehr ein anderes Männlichkeitsbild inzwischen Einzug gehalten hat.