1,1 Millionen Menschen sind in Österreich von Ernährungsarmut betroffen. Aber was bedeutet das konkret? Daniela Brodesser hat die Nase voll von übergriffigen Belehrungen und klärt auf.
Was mich regelmäßig in Rage versetzt? Wenn Menschen, die finanziell gut aufgestellt sind und ein funktionierendes soziales Netzwerk haben, Armutsbetroffenen erklären, wie, was, wann und wo sie einkaufen und kochen sollten.
Kaum erscheint in den Medien ein Bericht zu Armut und Ernährung, schon erklären uns die ersten Kolumnist:innen, man könne sich selbst unter der Armutsgrenze lebend billigst und gesund ernähren. Ausgewogenheit? So hohe Ansprüche sollen Betroffene bitte nicht stellen. Sie sollen froh sein, genug am Teller zu haben, wenn sie schon von uns „gesponsert“ werden. So direkt wagt das (fast) niemand zu sagen, doch es kommt so an – und das ist gewollt. Ich werde einen Satz niemals vergessen, als ich wirklich keine Ahnung mehr hatte, wie ich bis zum Monatsende noch genug für meine Familie kochen könnte: „Dann gibt es für die Kinder halt nur Bohnen oder Nudeln mit Ketchup, oder wollen Sie auch noch wählerisch sein?“. Das ist inzwischen acht Jahre her, aber es hat sich eingebrannt.
Kürzlich ist der Bericht zu Ernährungsarmut in Österreich erschienen und er ist, um es gelinde auszudrücken, aufrüttelnd. Mehr als 1,1 Millionen Menschen in diesem Land sind von Ernährungsarmut betroffen, 420.000 davon sogar von schwerer Ernährungsarmut. In einem der wohlhabendsten Länder Europas. Erschreckend viele Menschen können mit dem Begriff überhaupt nichts anfangen. Von „Das kann nicht stimmen, immerhin gibt es Sozialmärkte, also kann jede:r Lebensmittel kaufen“ bis hin zu „Das liegt nur daran, dass diese Menschen nicht kochen können oder ihr Geld für Unwichtiges ausgeben“ war an Reaktionen alles dabei.
Aber was bedeutet Ernährungsarmut eigentlich im Alltag? Ich versuche es anhand der eigenen Erfahrung zu erklären: Als bei uns die finanziellen Mittel immer geringer wurden, waren die ersten Einsparungen jene Dinge, auf die man leicht verzichten kann, z. B. der Friseurbesuch oder Treffen in Cafés. Doch je länger die Armut andauert und je höher die Preise steigen, desto mehr muss man sich beim Grundlegendsten einschränken – bei den Lebensmitteln. Also beginnt man, zu Zeiten einkaufen zu gehen (meist abends), in denen Waren reduziert werden. Man kauft Reduziertes und nicht das, was die Kinder gerne möchten oder was gesund ist. Ich konnte nicht mehr entscheiden, ob Vollkorn oder normale Nudeln, Dinkelbrot oder Weizentoast. Du kaufst nach Preis, nicht nach Qualität. Genau hier beginnt die Ernährungsarmut. In manchen Monaten kommt man mit dieser Strategie bis zum Monatsende, in anderen jedoch, in denen unerwartete Ausgaben wie kaputte Kinderschuhe oder gestiegene Stromkosten zu stemmen sind, ist zur Monatsmitte Schluss mit Einkaufen. So war das bei uns und so geht es heute 1,1 Millionen Menschen.
Und ich habe keine Ahnung, wie die Betroffenen es schaffen, angesichts der Preisexplosion nicht zu verzweifeln. Der Preis von Billignudeln hat sich zum Teil verdoppelt, Obst und Gemüse ist fast nur noch in diesen Retterkisten leistbar. Und trotzdem wird diesen Menschen ausgerichtet, sie könnten doch gesund und billig kochen, wenn sie nur wollten!
Ernährungsarmut bedeutet übrigens nicht nur, zu wenig am Teller zu haben, sie hat auch massive Folgen für die Betroffenen. Menschen fehlt der ausreichende Zugang zu qualitativ hochwertiger und nahrhafter Nahrung. Dies kann verschiedene Konsequenzen haben: von gesundheitlichen Problemen über soziale Auswirkungen bis hin zur Beeinträchtigung von Bildung und Arbeitsfähigkeit.
Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es keine Vorwürfe und Zurechtweisungen braucht, keine Artikel und Kommentare, in denen wir wie kleine Kinder behandelt werden, die vermeintlich keine Ahnung vom Leben haben. Denn eines können Betroffene von Ernährungsarmut definitiv: mit sehr geringen finanziellen Mitteln so gut es geht ein Essen auf den Tisch zaubern. Es braucht vielmehr eine Anpassung von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld sowie vom Zugang zu Zuschüssen, damit Betroffene nicht täglich Angst haben müssen vor dem Einkauf. Denn sehr viele haben keinen Anspruch auf Unterstützung, sie wissen es nicht oder sind zu beschämt, um Hilfe zu beantragen. Es macht wütend, dass wir Betroffenen sagen, wie sie sich zu verhalten haben, anstatt dafür zu kämpfen, dass sie sich die grundlegendsten Dinge leisten können.
Daniela Brodesser ist Autorin und Aktivistin und setzt sich gegen Armut und Beschämung ein.