Feministische Kämpfe finden auch beim Ringen um die richtigen Worte statt. Erneut ist ein Streit um den Ausdruck „Opfer“ entbrannt. Von CONNY GANTZE
Als Mithu Sanyal und Marie Albrecht Anfang Februar den Artikel „Du Opfer!“ in der „taz“ publizierten, brach ein Sturm an Entrüstungen los. Die Autorinnen thematisieren in diesem Beitrag die Ambivalenzen der Selbst- und Fremdbezeichnungen von Personen mit sexualisierten Gewalterfahrungen. Dieses Ringen um Begriffe ist nicht neu, sondern wird seit Jahrzehnten in feministischen Bewegungen geführt. Dies geschah im Rahmen der Kämpfe für eine Skandalisierung des Gewaltproblems und die Erweiterung des Gewaltbegriffs. Dabei haben feministische Diskurse bestimmte Positionen zu Gewalt sowie bestimmte Bezeichnungen und Begriffen immer wieder infrage gestellt, revidiert oder verworfen. Zunächst ging es aber darum, auf den Opferstatus der vergewaltigten Frauen* zu bestehen. Denn nur über den Begriff des Opfers konnte – und kann noch immer – das politische Gewicht und die juristische Relevanz sexualisierter Gewalt behauptet werden. In juristischen Kontexten sowie in medialer Berichterstattung ist es deshalb nach wie vor wichtig, Opfer und Täter* zu benennen und so eine Opfer-Täter*-Umkehr zu vermeiden. Die Betonung des temporären Zustands des Opferseins, der sich jedoch nur auf den Aspekt des Gewalterlebens und nicht auf alle anderen Lebensbereiche bezieht, ist dabei unumgänglich. In den Diskussionen wurde jedoch auch schon früh die Ambivalenz des Opferbegriffs thematisiert.
Wie auch Mithu Sanyal und Marie Albrecht in ihrem Artikel anmerken, hat sich die Bedeutung des Begriffs Opfer im letzten Jahrhundert gewandelt. So bezeichnete der Opferbegriff noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts etwas sehr Spezifisches und Einmaliges. Opfer wurden nur jene genannt, die bereit waren, für einen politischen oder existenziellen Zweck wie z. B. in einem rituellen Akt ihr Leben zu geben, oder denen es aufgrund eines solchen genommen wurde. Die Loslösung des Opferbegriffs aus politischen und religiösen Funktionen führte zum symbolischen Verlust des aktiven Handelns der Opfer und ihres gesellschaftlichen Beitrags. In aktuelleren Diskussionen ist der Begriff Opfer im Gegenteil extrem passiv konnotiert und wird meist mit Eigenschaften wie schwach und hilflos in Verbindung gebracht. Entsprechend wird auch eine gewisse Erwartungshaltung an Opfer gerichtet, und wer dieser nicht entspricht, ist je nach Bewertung „stark“ oder „undankbar“ und im schlimmsten Fall wird unterstellt, das Erlebte könne so schlimm nicht gewesen sein. Der Begriff Opfer beinhaltet jedoch auch immer die Überzeugung, dass es eine tatsächliche Schädigung einer Person gibt sowie die gesellschaftliche Pflicht zur Konfrontation und Sanktionierung der Täter*.
Mitte der 1980er-Jahre etablierte sich der Begriff Überlebende innerhalb feministischer Bewegungen. Dieser kam vor allem aus US-amerikanischen Diskussionen und soll deutlich machen, dass diejenigen, denen Gewalt angetan wird, aktiv und initiativ Strategien entwickeln und anwenden, um die Gewalt mit möglichst wenig Schaden zu überleben. Dieser Begriff war nicht nur für die Bewältigung individueller Schuldgefühle (sich nicht genügend gewehrt zu haben) von Bedeutung, sondern führte auch zu einer Subjektwerdung des Neutrums „Opfer“. Der Begriff der Überlebenden ist jedoch stark mit Holocaust-Überlebenden verbunden. Eine unkommentierte Verwendung des Begriffs für Betroffene sexualisierter Gewalt birgt die Gefahr der Relativierung der Erlebnisse von Holocaust-Überlebenden und sollte gerade im deutschen und österreichischen Raum überdacht und reflektiert werden.
Mithu Sanyal und Marie Albrecht schlagen den Begriff Erlebende vor. Diese Bezeichnung ist auch der Ausgangspunkt der hervorgerufenen Empörung. Die Gruppe Störenfriedas veröffentlichte einen „Offenen Brief gegen die sprachliche Verharmlosung sexueller Gewalt“ mit mehr als 200 Unterzeichner_innen. Kritisiert wird, dass die Bezeichnung „Erlebende“ Assoziationen mit positiven Erlebnissen hervorrufe und so mit einer Verharmlosung sexualisierter Gewalt einhergehe. Artikel in „Emma“, „Zeit“ und „FAZ“ mischten in der Debatte mit, und auch auf Facebook, Twitter und diversen Blogs wurde der „neue“ Begriff diskutiert – oft sehr reißerisch und von Personen, die feministischen Bewegungen eigentlich nichts abgewinnen können. Was danach folgte, schildert Mithu Sanyal in der „Huffington Post“. Die Autorin berichtet, dass sie seither einem unglaublichen Shitstorm von Gewaltaufrufen und Vergewaltigungsandrohungen ausgesetzt ist.
Die Auseinandersetzung zeigt die enorme Wichtigkeit von Worten und die Ambivalenz vieler Begriffe und sie verdeutlicht, dass „unsere“ Kämpfe noch lange nicht ausgefochten sind. Sie zeigt jedoch auch, dass eine solidarische und auch energische Diskussion unumgänglich ist, um der Vereinnahmung und Umdeutung feministischer Diskurse durch Sexist_innen und Rechte entgegenzutreten!
Conny Gantze lebt und arbeitet in Wien und hat als langjährige fibrette schon viele Reibereien in feministischen Diskussionen mitbekommen.