Die Corona-Krise kann der Ausgangspunkt für nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel werden, hoffen Barbara Stefan und Mahsa Ghafari.
Wir sind schockiert. Die Situation an den griechischen Außengrenzen ist eine sich täglich weiter zuspitzende Katastrophe. Der Gedanke, dass auf Menschen, die Schutz und Hilfe suchen, mit Tränengas und sogar scharf geschossen wird und sie zurückgeprügelt werden, als wären es keine Menschen, ist unerträglich. Wir demonstrieren so laut wir können. Die Tatsache, dass die Menschenrechtskonvention wieder einmal außer Kraft gesetzt wird und selbst kleine Kinder angegriffen werden, ist eine weitere Schande für Europa. Wir gehen auf die Straße, sprechen auf Demos. Wir teilen auf Facebook. Wir diskutieren. Wir leisten Widerstand, indem wir widersprechen. Wir umarmen einander, machen halb-ernst gemeinte Witze darüber, ob das wohl bald verboten sein wird und wir alle zu Hause bleiben müssen.
Währenddessen rückt Corona immer näher.
Wenige Wochen später ist die Corona-Krise auch bei uns angekommen und trifft uns mit voller Wucht. Es gibt Ausgangsbeschränkungen, viele sind im Home-Office. UnternehmerInnen sollen entlastet werden, ein Konjunkturpaket wird beschlossen. Und die ArbeitnehmerInnen?
Die Widersprüche des Kapitalismus werden plötzlich in aller Deutlichkeit sichtbar: Kapitalismus und Neoliberalismus bieten keine Lösungen für die Probleme der Menschheit – im Gegenteil. Sie sind deren Ursache und verschlimmern sie. Kaputt gesparte Spitäler und Kürzungen beim Gesundheitspersonal erschweren es, mit Pandemien umzugehen. Die Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre, die normative Organisierung der Menschen in Kleinfamilien führt nun mit dem Ausfall der staatlichen Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen bei vielen Menschen zu extremer Überlastung. Denn – Überraschung – Kinderbetreuung, vor allem von Kleinkindern, ist tatsächlich Arbeit und zwar harte Arbeit, die keine Einzel- und auch nicht zwei Personen alleine leisten können, ohne überlastet zu sein. Dies drückt sich wiederum in Gereiztheit, Wut, Aggression aus. Sie hindert zudem Menschen am effektiven Home–Office. Ohne die un– und unterbezahlte Arbeit von Frauen in der Familie, in der Pflege, in den Spitälern, im Handel, in den Sozialversicherungen ließe sich die Krise nicht meistern, denn sie leisten die unsichtbar gemachte und tatsächlich systemrelevante Arbeit. In der Krise wird wie nie zuvor sichtbar, dass die Priorisierung der Gewinne von Unternehmen auf Kosten von Mensch und Umwelt geht.
Der erzwungene Rückgang von wirtschaftlichen Aktivitäten, das Abdrehen der Produktion unnützer und schädlicher Konsumgüter und die Bewegungseinschränkung von Menschen lässt nämlich auch die Natur aufatmen. CO2-Ausstöße werden gesenkt. Zusammenhalt und Solidarität sind zwar plötzlich zu den neuen Lieblingswörtern der Regierung geworden, aber von Solidarität mit den tausenden Geflüchteten, die in Lagern mit katastrophalen hygienischen Zuständen festsitzen, ist nicht die Rede. Auch diese Scheinheiligkeit, die rassistische Politik und die ihr innewohnende, fatale Dummheit wird sichtbar: Solidarität sollte keine nationalen Grenzen kennen, eine Pandemie kennt sie auch nicht und wenn diese Menschen jetzt nicht gerettet werden, droht Griechenland ein weiterer Corona–Hot–Spot zu werden – und das ist nur eine der vielen möglichen, tragischen Konsequenzen dieses Nichtstuns.
Ein hoffnungsvoller Sprung nach vorne: Es ist klar – es gibt kein Zurück zur Normalität vor Corona. Die entstandenen Netzwerke der Solidarität und der Nachbarschaftshilfe dienen als Basis für die weitere Organisation von Austausch und gegenseitiger Unterstützung. Die Menschen haben gelernt, worauf es in einer Gesellschaft ankommt: auf ein gesundes Zusammenspiel von Mensch und Natur, auf eine gute Arbeitsteilung und angemessene Bezahlung für gesellschaftlich wirklich relevante Aufgaben, auf Freizeit. Es gibt kein Zurück zu einer Unterordnung unter die Kapitalakkumulation. Viel zu hoch sind ihre Kosten für die Allgemeinheit. Menschen brauchen eine bedingungslose Sicherung ihres Grundbedarfs, eine kollektive Care-Arbeitsteilung, die niemanden überlastet und genug Zeit für sich selbst und für die Beziehungen mit Mitmenschen. Es gibt kein Zurück.
Barbara Stefan ist Politikwissenschafterin, Mutter, Aktivistin im Aufstand der Alleinerziehienden und Redaktionsmitglied beim Mosaik-Blog.
Mahsa Ghafari ist Aktivistin und Schauspielerin. Unter anderem gründete sie den Verein Flucht nach Vorn mit und rief 2017 gemeinsam mit Mitstreiterinnen zum Gobal Women’s Strike auf.