Alexandra Weiss über das Widerwärtige in der politischen Kultur Tirols.
In der Tiroler Landesverfassung ist seit 1980 nicht nur die „Treue zu Gott“, sondern auch die „geordnete Familie als Grundzelle von Volk und Staat“ verankert. Die dominante katholisch-konservative Prägung des Landes stand und steht im Widerspruch zur Demokratisierung – nicht nur – von Geschlechterverhältnissen. Dass die Fristenlösung in Tirol nie umgesetzt wurde, ist ein eindrückliches Beispiel für die enge Allianz zwischen Kirche und Landespolitik.
Was als „geordnete Familie“ gilt, haben dabei bis Mitte der 1980er-Jahre Männer weitgehend unter sich ausgemacht. Insofern verwundert es nicht, dass die Familie kaum als Arbeitsplatz (von Frauen) thematisiert wird, sondern als schützenswerter „Rückzugsort“ (von Männern). Anlass, die Familie in die Landesverfassung aufzunehmen, war die Erosion der Kleinfamilie, die Pluralisierung der Lebensformen und die Abschaffung des Patriarchats im Ehe- und Familienrecht durch die sozialistische Alleinregierung. Dass die Familie als bedrohte Lebensform diskutiert wurde, hatte allerdings nicht nur mit Emanzipationsbewegungen zu tun, sondern mit ökonomischen Umbrüchen, die den männlichen Familienlohn abschafften.
Wenn, wie in Tirol, neoliberale Politiken auf ein traditionelles Patriarchat treffen, entsteht eine eigene Mischung dessen, was als „Reorganisation des Patriarchats“ diskutiert wird. Die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt erfolgte nicht nur vor dem Hintergrund einer weitgehenden Deregulierung, sondern auch eines eklatanten Mangels an bedarfsgerechten Kinderbetreuungseinrichtungen.
Die Landespolitik nimmt die Armut von Frauen, ihre ökonomische Abhängigkeit und daraus entstehende Gewalt bewusst in Kauf. Frauen werden als billige Arbeitskräfte für die atypischen Arbeitsverhältnisse vor allem in Tourismus und Handel mobilisiert, weil sie gar keine andere Wahl haben. So bleibt in der Ordnung der Geschlechter alles beim Alten, obwohl sich alles ändert.
Dass Tirol ein Demokratie-Problem hat, ist nicht erst im Zuge der Corona-Krise offensichtlich geworden. Die ÖVP überzieht das Land mit einem engmaschigen Netzwerk. Auch die Landeshauptstadt bildet kein politisches Gegengewicht zum ÖVP-dominierten Land. Allerdings stört das hierzulande wenige, zu ausgeprägt sind dumpfer Regionalismus und autoritäres Denken. Kritik und die ohnehin nur recht oberflächlichen Ansprüche an Geschlechtergleichstellung wurden angesichts der Krise hinweggefegt: Frauen verschwanden schlagartig aus der politischen Öffentlichkeit oder räumten freiwillig das Feld, wie die grüne Landeshauptmann-Stellvertreterin Ingrid Felipe.
Aber nicht nur das: Die Krise zeigte auch, dass die Lebensbedingungen von Frauen politisch nicht interessieren. Ihrer Funktion als Sozialkitt einer entsolidarisierten Gesellschaft sollten sie in der Krise freilich nachkommen und auffangen, was der Staat nicht (mehr) leistet. Die Unterversorgung mit sozialen Diensten, eine geringe Erwerbsquote, die höchste Teilzeitquote in Österreich, Einkommen, die für mehr als die Hälfte der Frauen nicht existenzsichernd sind, sind Garant für die „geordnete Familie“ und sorgen dafür, dass weibliche Autonomie Illusion und Politik Männersache bleibt.
Das Selbstverständnis einer außerordentlich männlich dominierten politischen Elite wurde durch den Fauxpas des Landeshauptmann-Stellvertreters Josef Geisler unabsichtlich öffentlich. Es war aber wohl nicht allein Sexismus, der ihn dazu veranlasste, die WWF-Vertreterin Marianne Götsch als „widerwärtiges Luder“ zu bezeichnen. Denn eine Bürgerin, die nicht verstummt, wenn ein Spitzenpolitiker spricht, irritiert.
Der feudale Gestus (nicht nur) von Politiker_innen wirft ein grelles Licht auf die politische Kultur eines Landes, in dem kaum je verstanden wurde, was Demokratie ausmacht und in der die politische Fantasie von Oppositionsparteien nur so weit reicht, sich als Juniorpartner in einer Koalition mit der ÖVP zu sehen. Kritik bleibt so allenfalls an der Oberfläche, während Entwürfe einer demokratischen Organisierung der Gesellschaft schlicht inexistent sind.
Alexandra Weiss ist Politikwissenschafterin und lebt in Innsbruck.