Zu Recht wird „Maikäfer flieg“ nach CHRISTINE NÖSTLINGERS autobiografischem Roman die Diagonale 2016 eröffnen. Ein brutaler, aber auch ein fröhlicher und feministischer Film, meint FIONA SARA SCHMIDT.
Als der Krieg schon fast vorbei ist, flüchtet die neunjährige Christine mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Neuwaldegg. Es ist April 1945, die rote Armee ist nicht mehr weit von Wien entfernt. Die Großmutter weigert sich, ihre zerbombte Wohnung zu verlassen, weil sie nicht in einer „Nazivilla“ am Stadtrand unterkommen möchte. Diese Villa wird zum Refugium der Familie, die voller Angst auf die Ankunft der Russen wartet, denn der von der Wehrmacht desertierte Vater ist inzwischen auch dort abgetaucht. Die Hausherrin kehrt mit ihrem Sohn ebenfalls zurück, das Grundstück wird bald wirklich von einer Kompanie eingenommen.
Kind im Krieg. Der Romanstoff von 1973 wird auch heute junge wie alte Kinogänger_innen in seinen Bann ziehen und wurde auch deswegen als Eröffnungsfilm der Diagonale ausgewählt, weil für so viele Kinder Krieg nach wie vor schreckliche Normalität ist. „Ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, dass einmal kein Krieg war“, sagt die kleine Christel zu Beginn aus dem Off. Mirjam Ungers gleichsam liebevoll gestaltetem wie auch an manchen Stellen schonungslosem Film gelingt der Spagat, das Leben im Frühjahr und Sommer 1945 mit all seinen inneren Widersprüchen einzufangen: zwischen Zukunftsangst und dem Arrangieren mit den Befreiern, neuen gesellschaftlichen Rollen, Gewalt und fröhlichen Momenten trotz Hunger und Unsicherheit. Die Regisseurin, die ihren jüdischen Wurzeln im Dokumentarfilm „Viennas Lost Daughters“ (2007) nachgegangen ist, hat nach „Ternitz, Tennessee“ nun 15 Jahre später wieder einen Spielfilm gedreht.
Neuer Alltag. Der prägendste Satz aus den Gesprächen mit Christine Nöstlinger war in der Vorbereitung für Unger: „Die Wochen aus ‚Maikäfer flieg’, die Wochen im Sommer 1945, als alles in Schutt und Asche lag, waren die aufregendsten und spannendsten und vielleicht sogar schönsten Wochen meiner Kindheit.“ Diese Ambivalenz ist für Unger ein wesentliches Element ihrer Verfilmung, deswegen ist dieser Sommer auch nicht grau in grau, sondern bunt, und alle Figuren wirken trotz aller Entbehrungen quicklebendig. Der Koch Cohn (Konstantin Khabensky), mit dem Christine sich zum anfänglichen Entsetzen ihrer Eltern anfreundet, spricht deutsch und ist als Jude Außenseiter der trinkfreudigen Kompanie, er wird zur Verbindung zwischen Christine und „den Russen“. Zita Gaier spielt bezaubernd das neugierige und sturköpfige Kind, an dem die Mutter (Ursula Strauss) regelmäßig verzweifelt. Christines Vater (Gerald Votava) muss seinen Platz in der Familie erst wieder finden, die Frauen sind selbstbewusst und kümmern sich – nicht immer mit den sanftesten Erziehungsmethoden – um die Kinder und den Haushalt. Konsequent ist auch der Wienerische Dialekt bei der Eltern- und Großelterngeneration. Die Kompanie, zu der auch eine Frau gehört, wurde zum großen Teil mit russischen Schauspieler_innen besetzt, was die oftmals schwierige Kommunikation in der Villa authentisch erscheinen lässt. Die Musik von Gustav, die bereits 2012 in Ungers Dokumentation „Oh yeah, she performs“ zu sehen war, und manche optische Spielerei sorgen für den verwunschenen Glanz der Kindheit, den der Film insgesamt vermittelt.
Starkes Statement. Christine Nöstlinger, die heuer ihren achtzigsten Geburtstag feiert, ist mit ihrer politischen Haltung für die Crew auch ein Vorbild. Es sei kein Zufall, dass mit Produzentin Gabriele Kranzelbinder, Mitautorin Sandra Bohle, Kamerafrau Eva Testor, Katharina Wöppermann (Szenenbild), Niki Mossböck (Schnitt) und eben Eva Jantschitsch für die Musik alle zentralen Aufgaben mit Frauen besetzt sind, schreibt Mirjam Unger über die Produktion. „Wir alle durften uns mit einem Budget, das die (für Frauen bislang) gläserne Decke durchbrochen hat, an diese historische Verfilmung wagen. Es ist uns allen bewusst, dass wir hiermit ein klares frauenpolitisches Statement setzen.“ Ein sehenswertes noch dazu.
Maikäfer flieg
Regie: Mirjam Unger
A 2016, 109 Min.
ab 11.3. in den österreichischen Kinos